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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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Erwiderung ließ dennoch nicht auf sich warten: »Wissen Sie, ich hatte einen sehr alten Klavierlehrer mit großen Zahnlücken, der ständig auf die Tasten sabberte. Um keine nassen Finger zu bekommen, war ich gezwungen, besonders schnell zu spielen.« Eine solche Unverfrorenheit mag bei einem jungen Mädchen von sechzehn Jahren am Beginn einer vielversprechenden Karriere, die ein gewisses diplomatisches Geschick erfordert, durchaus erstaunen. Aber Martha war das vollkommen egal. »Ich hatte kein bestimmtes Bild von mir, weder als Pianistin noch als Frau. Überhaupt nicht!« In der Welt der klassischen Musik mit ihren höflichen Umgangsformen bildete Marthas Sponta-
neität einen starken Kontrast. Mit der Zeit erwarb sie sich den Ruf eines Vamps, einer Femme fatale, einer Frau, die reihenweise Männer verschliss – was absolut nicht der Realität entsprach. »Ich habe keine Ahnung, wie ich zu diesem Ruf gekommen bin«, so die Künstlerin. »Ich war sehr kurzsichtig und musste die Augen zusammenkneifen, um die Leute zu erkennen, das mag mir diesen merkwürdigen Blick verliehen haben … Ich habe viel geraucht, war sehr blass und immer schwarz gekleidet, noch bevor das als schick galt.« Und vor allem konnte sie sehr scharfzüngig sein, wenn man ihr zu nahe trat.
    Nach dem Wettbewerb von Genf nahm Martha ihren Unterricht bei Madeleine Lipatti und Nikita Magaloff wieder auf. Ihr rasendes Tempo war noch immer schwer in den Griff zu bekommen. »Du spielst zu schnell«, beschwerte sich Madeleine Lipatti. »Bei dir ist immer alles dramatisch und tragisch. Willst du nicht, dass man dich liebt?« Nikita Magaloff, der stets auf Verteidigungskurs für sie ging, meinte in seiner philosophischen Art: »Man kann von einem Rassepferd nicht verlangen, dass es nur im Trab läuft.« Wenig geneigt, sich von einer Definition ein-
engen zu lassen, die ihrem lebhaften Naturell zuwiderläuft, pflegt Martha jeglichen Charakterisierungen ihres Spiels oder ihrer Person mit Misstrauen zu begegnen. Sobald man versucht sie zu definieren, entzieht sie sich einem, verweigert sich vollständig, weil sie es nicht ertragen kann, in eine Schublade gepresst zu werden. Ein Psychoanalytiker sagte ihr einmal, dass sie weder Komplimente noch Kritik annehmen könne. Und Cacique vertraute einem Journalisten an: »Es gibt zwei Dinge, die meine Schwester auf den Tod nicht ausstehen kann: Komplimente und wenn man ihre Haare berührt.«
    Martha interessiert sich nicht sonderlich für ihre Person, aber dafür nimmt sie sich umso mehr der Probleme anderer Leute an. Die kleinste Komplikation im Leben eines ihrer Freunde wird sofort zu ihrer eigenen Sache. Ihrer Ansicht nach verdienen die menschlichen Sorgen und Nöte viel mehr Aufmerksamkeit als jede berufliche Verpflichtung. Und irgendein Problem gibt es immer, wenn man genauer hinschaut. Aber nicht allein aus Nächstenliebe stürzt sich Martha Argerich in die Aufarbeitung der größeren und kleineren Dramen, die sie umgeben und erschüttern. Vielleicht ist dies auch unbewusst eine Art Ausweichmanöver, um sich nicht ans Klavier setzen zu müssen – wie bei einem Kind, das im Moment, da es zu Bett gehen soll, noch alle möglichen Dinge zu erledigen hat. Aber man muss sie nur spielen hören, um zu begreifen, dass man zu einem solch einzigartigen Ergebnis nicht gelangt, wenn man sich abends um acht Uhr ins frisch aufgeschüttelte Bett legt, nachdem man seinen Eltern einen Gutenachtkuss gegeben hat. Ihr Agent Jacques Thélen ist oft verzweifelt angesichts der Ängste der Konzertveranstalter, die sich wegen der kleinsten Verspätung der Diva verrückt machen und ihn sofort mit Telefonanrufen bombardieren. »Alle wollen Martha Argerich haben, aber kaum haben sie sie, geraten sie in Panik, wenn sie mal zehn Minuten zu spät kommt!«
    Wenn sie den äußeren Druck um sich herum erhöht, bringt die Pianistin – in einer kuriosen Form des atmosphärischen Ausgleichs – vermutlich die Quecksilbersäule ihres inneren Barometers zum Fallen. Hat sie erst einmal alle an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht und in eine regelrechte Angststarre versetzt bei dem Gedanken daran, sie könnte womöglich keinen einzigen Ton hervorbringen, lässt sie ihre Finger mit der allergrößten Naturalezza über die Tasten tanzen, als wäre sie endlich von einer Last befreit. Auf die eine oder andere Weise muss man eben seinen Tribut zollen, wenn man sie hören will, aber trotzdem kann man hier nicht von Vorsätzlichkeit sprechen. Das

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