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Martha's Kinder

Martha's Kinder

Titel: Martha's Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertha von Suttner
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stets geholfen werden soll. Noch größeren Jubel aber hatte er diesen Saal durchbrausen gehört, wenn auf dem Podium ein geschickter Geiger stand oder eine hübsche Diva schalkhafte Lieder zum besten gab: nein, um Applaus buhlte Rudolf wahrlich nicht. Weder als Volksgunstsänger noch als Redekünstler trat er auf, kein rhetorisches Virtuosenstücklein hatte er zu bieten – nur etwas zu sagen hatte er.
    Alle Plätze waren besetzt, die anberaumte Stunde war überschritten – es war Zeit zum Anfangen.
    Rudolf stieg auf das Podium; das Summen der im Saal geführten Gespräche verstummte, erwartungsvolles Schweigen stellte sich ein.
    »Ich habe Herzklopfen,« flüsterte Martha dem nebensitzenden Kolnos zu.
    Sie war nicht die einzige. In einer der letzten Reihen – sie war von Hause entschlüpft und mit einer Freundin hierher gekommen – saß Cajetane Ranegg und ihr Herz und alle ihre Pulse pochten so heftig, daß ihr beinahe die Besinnung verging.
    Dotzky selber zitterte nicht. Es war ja nicht das erstemal, daß er zu einer versammelten Menge sprechen sollte. Während seiner gescheiterten Wahlkampagne hatte er es häufig getan und dabei seine Fähigkeit erprobt, Stimme und Rede zu beherrschen. Hier war es freilich etwas anderes, aber etwas, das ihm ein erhöhtes Gefühl überlegener Sicherheit gab; nicht um etwas von den Versammelten zu erreichen, stand er da, sondern um ihnen etwas zu geben.
    Er trat an das Pult, das vorn am Podium stand, und stellte sich seitwärts dazu, mit dem Ellenbogen sich daran legend. Es lag keinerlei Manuskript auf dem Pult und er hielt auch keines in der Hand – er wollte frei sprechen.
    Mit lauter, fester Stimme hub er an:
    »Ihr Unzufriedenen! Vorerst nur an diese, an die Unzufriedenen hier im Saale wende ich mich – Ihnen hab' ich eine Botschaft zu verkünden: es wird besser werden ... Vielleicht bald, vielleicht noch lange nicht – das hängt von der Zahl und der Arbeit der Unzufriedenen ab. Aber unter denjenigen hier, die diese Ansprache auf sich beziehen können, muß ich – sollen meine Worte nicht an eine falsche Adresse gehen – genauer sichten, welche Gattung Unzufriedener ich meine. Jene sicher nicht, die damit unzufrieden sind, daß man allenthalben beginnt, an alten Zuständen zu rütteln; auch jene nicht, die ihrer Unzufriedenheit durch Schimpf und Gehässigkeit Luft machen wollen – eine Methode, die von der Hetzrede bis zur geschleuderten Bombe reicht – und ebensowenig jene, die mit ihrer eigenen zufälligen Privatlage unzufrieden sind und nun wünschen, daß bloß diese – im Rahmen der bestehenden Verhältnisse, so viel auch andere davon bedrückt werden – sich zum Besseren gestalte. Nein, weder zu den Quietisten – im Sinne von quieta non movere –, noch zu den Anarchisten der Tat, noch zu den einfachen Egoisten rede ich, sondern zu denen, die ein heiliger Unmut erfüllt gegen das Unglück aller Bedrängten und Bedrückten – und ein heiliger Wagemut dazu, das Unglück wegschaffen zu wollen – für sich und für andere.
    Doch einzig mit Mitteln, die eben so rein seien, wie der Zweck.
    Nun will ich die Dinge herzählen, mit denen wir unzufrieden sind und sein müssen, wenn anders es wirklich »besser werden soll.«
    Er machte eine kleine Pause und veränderte seine Stellung. Dann begann er mit gleichfalls verändertem Ton die angesagte Herzählung.
    Eins nach dem andern ließ er die Zustände und Einrichtungen Revue passieren, die das Ungemach und die Qualen des gegenwärtigen Gesellschaftslebens verschulden. An jede einzelne seiner Anklagen – denn indem er die Zustände nannte, klagte er sie an – knüpfte er eine Schilderung, beinahe eine Erzählung. Es war wie eine Reihe vorgeführter Bilder, fertig und lebensvoll: Arbeiterelend, Frauenerniedrigung, Soldatenmißhandlung, Konfessions- und Rassenhader, das Schicksal der Arbeitslosen, und was sonst der beklagenswerten Erscheinungen in der herrschenden Gesellschaftsordnung mehr sind.
    »Eine Gesellschaftsordnung, die auf Privilegien aufgebaut, auf Gewalt gestützt und von Ungerechtigkeit und Unwissenheit durchseucht ist. Eine Gesellschaftsordnung, die zwar alle Tugenden und Gebote kennt und verkündet, deren Herrschaft und Befolgung allgemeines Glück verbreiten würden – nämlich die Tugenden: Milde, Großmut, Nächstenliebe – Feindes liebe, sogar die Gebote: töte nicht, lüge nicht, neide nicht; die aber alle diese schönen Dinge in die Moralhandbücher, in die Religionsstunden, eigentlich ins

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