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Martha's Kinder

Martha's Kinder

Titel: Martha's Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertha von Suttner
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bildlichem Sinne gedacht. Die Ketten sind nicht aus Eisen, die Drachen haben keine Schuppen und nicht auf steinernen Säulen ruhen die Tempel, die ich meine. Ich muß deutlicher werden –«
    Und nun ging er daran, in ruhigem Tone zu erläutern, was in seinen Augen die Ketten und Fesseln seien, mit welchen wir alle gebunden sind, und wie sie abzuschütteln wären; was er sich unter dem hehren Tempel denkt, den die Händler entweihen, und wie man diese zu verjagen hätte; und schließlich wie der Drache heißt, der in der Mitwelt so verheerend haust, und woraus die Sankt-Georgs-Tat bestehen soll, durch die das Ungetüm zu erlegen sei. »Jeder Mann wird als Sklave geboren. Er muß dienen, ob er will oder nicht, er muß ein vorgeschriebenes Lernpensum durchmachen, soll er nicht drei, sondern nur ein Jahr dem Militärzwang unterliegen – und während er dieses Mußjahr dient , heißt er euphemistisch »Freiwilliger«. Von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sieht man im ganzen Gesellschaftsgetriebe nur wenig. Die Leibeigenschaft ist zwar aufgehoben – aber ist man nicht an die Scholle gefesselt, wenn man nicht nach beliebigem Ziel und auf beliebige Zeit verreisen kann, ohne Deserteur zu heißen, und ist man etwa bewegungsfrei, wenn man die Galeerenkugel der Armut schleppt? Wie all diese Ketten zu sprengen seien? Durch die Lösung der sozialen Frage. Daß er diese Lösung hierher mitgebracht habe, in eine fertige Formel gedrängt: so viel törichte Vermessenheit würde man ihm hoffentlich nicht zumuten; er habe nur diese Mahnung zu geben: die soziale Frage muß unablässig, ehrlich, wissenschaftlich studiert, Experimente müssen gewagt werden, so lange bis man die Lösung gefunden hat – der hehre Tempel, das ist die Natur, das ist das Leben selber. Beide so voll der Pracht und der Wunder, der Mysterien und der Schätze. Das Leben mit seiner angeborenen Lust – die Lebensfreude – und das Allerheiligste dazu – die Liebe. Die Natur in ihrer Ewigkeit und Unendlichkeit, in ihrer Allmachtskraft, ihren immerwirkenden Gesetzen und stetem Entfaltungswandel ... Und wie wird dieser Tempel – Natur und Leben, uns als Stätte der Andacht und der Seligkeit gegeben – wie wird der geschändet durch den darin betriebenen Täuschungsschwindel und Lügenschacher! Heraus damit! Zu dieser Reinigung braucht man nur das eine: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Mit anderen Worten: die Offenbarungen der Wissenschaft zum Dogma, – das stete Forschen nach Erkenntnis und deren mutige Verkündigung zum Kultus – und die unschuldigen Genüsse des Lebens zum Ritus erhoben. Genüsse, auf die alle den gleichen Anspruch haben sollen. Das haben die Kirchen gar wohl verstanden, daß auf ihre Feste und Feiern, auf Gnaden und Verheißungen alle gleich berechtigt sind – auch die Ärmsten und Niedrigsten – ebenso muß in dem Tempel, den ich meine, jeder gleichen Anspruch und Anteil an Lebensfreude haben – auch die Ärmsten und Niedrigsten. Oder vielmehr: Ärmste brauchte es nicht mehr zu geben, die Erde ist fruchtbar genug, damit keiner darbe – und niedrig darf niemand heißen, der nicht niedrig denkt ...
    »Und nun der Drache –«
    Rudolf machte eine kurze Pause um sich zu sammeln. Jetzt wollte er das vorbringen, was ihm am tiefsten im Herzen brannte, und von dem er wußte, daß es einer Auffassung entstammt, die für neun Zehntel aller Gegenwartsmenschen ganz ferne lag. Ihm erschien als der feindliche Drache was jene als Götzen verehrten.
    Martha befiel eine leise Angst. Sie sah kommen, was ihr Sohn sagen wollte und sie zitterte, daß dies für manchen Anwesenden verletzend ausfallen könnte. In den Parkettreihen sah man zahlreiche Uniformen – und doch war das Ungeheuer, gegen das der Vortragende jetzt den Georgs-Speer zücken wollte, der Krieg – –
    »Ach Kolnos«, flüsterte sie ihrem Nachbar zu, »mir ist bange.«
    »Ich verstehe Sie,« gab er zurück. »Aber nur unverzagt, Martha Tilling – dort oben steht ein Kämpfer ... Er tut und sagt, was er muß.«
    »Freunde, Gegner und Gleichgültige hier im Saale, Glückliche und Bedrängte, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Soldaten und Bürger, Aristokraten und Arbeiter – der Drache, den ich meine, das ist nicht nur mein, das ist auch Ihr, ist unser aller heimtückischer Feind. Und sein Name ist – Gewalt. Aber nicht als ein zu Bekämpfendes, Verheerendes, Ungeheuerliches – mit einem Worte nicht als Drache wird von unserer Gesellschaft die Gewalt anerkannt, sondern sie gilt und

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