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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen …« (MEAW 6, S. 555 f.) Und später insistiert Engels noch einmal: Die Superstrukturen »reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage
Ursache, allein aktiv
ist und alles nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der
in letzter Instanz
stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.« (MEAW 6, S. 606)
    |124| Nun ist die Sache deutlicher: Der simple materialistische Mechanismus, daß die Ideologien bloße Ableitungen der ökonomischen Verhältnisse sind, läßt sich ebensowenig aufrecht erhalten wie der inverse idealistische Mechanismus, der glauben zu machen versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse hätten ihren Ursprung in den Ideen und Wünschen der Menschen. Aber mit der Behauptung, alles hänge mit allem zusammen, jedes wirke auf das andere ein, würde ein nicht viel weniger dürrer Mechanismus ins Recht gesetzt, mit dem sich erfreulicherweise zwar alles erklären ließe – aber leider damit auch nichts. Was ist Ideologie? Ist sie ein Ensemble bloßer Irrtümer, bestimmt von einem unbegrenzten Fundus verschiedener Wirkungen, zu denen die materiellen Beziehungen, Überlieferungen, Übertölpelungsversuche ebenso gehören wie der Umstand, daß die Menschen sich nur Vorstellungen über etwas machen können, was sie in Worte zu fassen vermögen, also: wofür es Worte gibt? Und in welchem Verhältnis stehen die Ideologien zur »Wirklichkeit«? Sind sie nur falsches Bewußtsein, und ginge es den Menschen besser, wenn sie keinen Ideologien mehr aufsäßen? Oder brauchen sie vielmehr so etwas wie Ideologie, um in der Wirklichkeit zurechtzukommen? Was, wenn der ideologische Diskurs Gesellschaft erst möglich macht, weil er Konflikte »glättet«? Und welche Rolle kommt den öffentlichen und privaten Institutionen zu, die diese Gespinste vermitteln – Schulen und Verlagen, Kirchen und Fernsehstationen, Gefängnissen und Sozialarbeitern? Das sind manche der Fragen, die sich von Marx beeinflußte Denker seit mehr als 120 Jahren stellen.

    |125| Es ist eine komplizierte Sache mit der »Ideologie«, auch wenn der Alltagsverstand hier spontan anders formulieren würde – denn für den ist Ideologie nach einer schönen Formulierung Terry Eagletons »wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben« 110 . Von der starren zweigeschossigen Topik ist in der postmarxschen Debatte, die vor allem von unorthodoxen Marxisten wie Antonio Gramsci, Georg Lukács, Karl Korsch oder Louis Althusser angestoßen wurde, nicht mehr viel übriggeblieben. Im heutigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskurs beschreibt der Begriff
Ideologie
denn auch weniger eine Art von Meinung, mit der sich eine bestehende Ordnung rechtfertigen ließe, sondern eher ein Feld von Bedeutungen, mit Hilfe dessen ›die Menschen‹ ihr Verhältnis zu diesen Existenzbedingungen deuten. Wir dürfen, wenn wir über sie nachdenken, weniger einen Leitartikel im Kopf haben, wir kommen ihrem Mysterium näher, wenn wir sie uns mit Gramscis Begriff des ›Alltagsverstandes‹ vorstellen. Diese ideologischen Bedeutungsfelder sind eine Art »spontane« Philosophie, die jedermann eigen sind, komplexe Formationen von Montagen aus Begriffen, Vorstellungen und Bildern, ein Konglomerat aus Irrtümern, Illusionen, Mystifikationen aber auch Selbstverständlichkeiten und allzu Bekanntem. Von der bloßen Überredung in herrschaftlicher Absicht unterscheidet sie erstens, daß jene, die sie unter die Leute bringen, selbst an sie glauben, und zweitens, daß sie an Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen anknüpft – Sicherheitsbedürfnisse beispielsweise oder Zukunftsversprechen.
    Ihre mächtigste Ausprägung finden die ideologischen Bedeutungsrahmen in den Weisheiten des Alltags: »Ge setz |126| ist Gesetz«, »Jeder ist seines Glückes Schmied«, »Leistung muß sich lohnen«. Ihr Funktionsmechanismus ist die Verdrängung – der Umkehrschluß »Jeder ist seines Unglücks Schmied« klingt schon weniger betörend – oder die Verschiebung, die schier unmerkliche Transformation eines Begriffes aus dem ihm angestammten Bereich, in dem er wahr ist, in einen Bereich, in dem er ein rein ideologischer Text wird. Am deutlichsten wird dies, wenn ein Begriff, der den Naturwissenschaften entstammt, in die Gesellschaftsanalyse einwandert. So würden die meisten spontan dem Satz zustimmen, daß man »gegen die

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