Marx fuer Eilige
(MEAW 2, S. 501)
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein – eine apodiktische Proklamation, die bei erster Betrachtung ein wenig plump erscheinen mag; tatsächlich aber begründet diese auch heute noch den Marxschen intellektuellen Ruhm, den auch Nicht-Marxisten gezwungen sind anzuerkennen. So schrieb der Philosoph Eric Voegelin, Deutschland habe im 19. Jahrhundert »vier Figuren von Weltrang hervorgebracht«: Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Max Weber 107 . Mit diesen vier Denkern ist ein revolutionär neues Motiv in die Geistesgeschichte eingeführt: die Kritik der Aufklärung an sich selbst. Marx, schreibt Konrad Paul Liessmann folgerichtig, »das ist die seitdem nicht wieder abgeschlossene Eröffnung des Diskurses des Anderen der Vernunft« 108 .
|119| Was bedeutet das nun? Seit den Tagen der Aufklärung herrschte die Auffassung vor, die Menschen müßten nur ihre Vernunft gebrauchen und wären dann fähig zum Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Für Marx ist der Weg deutlich steiniger: Er kann der Vorstellung nicht folgen, man müsse die Menschen nur über die Verhältnisse aufklären, und wenn sie deren Fehler erkannt hätten, würden sie diese prompt ändern – jener Pädagogik also, die aus falschem Bewußtsein richtiges machen will, um dann eine falsche Praxis in eine richtige zu verwandeln. Die Ideen, die die Menschen über die Verhältnisse hegen, sind für Marx dagegen von diesen Verhältnissen ebensowenig zu trennen wie von den Handlungen, die diese Menschen Tag für Tag setzen – die Praxis findet im Kontext gegebener Verhältnisse statt, über welche die Menschen gewisse Vorstellungen haben, ebenso wie über diese Praxis selbst. Wie später Sigmund Freud anhand seiner psychoanalytischen Studien zurückweist, die Menschen als das zu nehmen, was sich ihr Bewußtsein selbst dünkt, so erwächst für Marx das Bewußtsein der Menschen nicht aus ihrem Kopf, sondern aus den gesellschaftlichen Beziehungen, die sie eingehen: Die Menschen sind sozusagen mit sich selbst nicht identisch. Der Blütentraum der Aufklärung wird welk: Das Subjekt ist nicht Herr im eigenen Haus. Mitte der vierziger Jahre hat Marx diesen Gedanken in der »Deutschen Ideologie« bereits entwickelt. »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende
materielle
Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende
geistige
Macht. … Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts |120| als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse.« (MEAW 1, S. 238)
Auch das klingt vorerst etwas plump: Wenn die herrschende Klasse, ihren ökonomischen Interessen entsprechend und mit der ökonomischen Macht, die ihr zur Verfügung steht, hinausposaunt, die auf Privateigentum und Konkurrenzprinzip beruhende Welt sei die beste aller denkbaren Welten, heißt dies doch noch lange nicht, daß alle Menschen diese Deutung pflichtschuldig übernehmen, so wie nicht alle aufhören, an einen Gott zu glauben, nur weil die Anbetung des Geldes zur neuen Religion geworden ist. Wäre dies so, dann wäre aller Ansturm gegen diese Macht tatsächlich Donquichotterie und das Phänomen der Ideologie auch gar nicht viel der Rede wert: Es wäre ein simples, eindimensionales Ableitungsverhältnis. Dies ist keineswegs Marx’ Punkt: Es geht ihm vielmehr darum, den Bewußtseinsformen »den Schein der Selbständigkeit« (MEAW 1, S. 213) zu rauben – in ihnen spiegeln sich die hegemonialen gesellschaftlichen Verhältnisse, zwar nicht auf simple Weise, doch auf verschobene, entstellte Art. In der Ideologie erscheinen »die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt«. Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie sind in gewissem Sinn »Nebelbildungen im Gehirn« (MEAW 1, S. 212), die von den materiellen Verhältnissen immer vorgeprägt sind – sei es durch den Erfahrungsschatz der Menschen, der gefärbt ist durch die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sie leben, durch das Gewußt-Wie, das sie sich aneignen, oder auch nur durch die Sprache, in der das Alte, das Gewohnte unausrottbar sitzt und selbst das |121| Neue immer wieder kontaminiert, so daß sich dieses stets in das Bekämpfte verstrickt. Auch Marx hat seine philosophische Revolution mit den alten philosophischen Begriffen formulieren müssen – neue standen
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