Marx fuer Eilige
logischerweise nicht zur Verfügung. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken«, heißt es in einer anderen, berühmt gewordenen Marx-Passage, »nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« (MEAW 2, S. 308) Die Möglichkeiten, die ihnen offenstehen, sind begrenzt, zumindest durch das, was in diesem Augenblick als denkmöglich gilt, und durch die Handlungsmuster, die sich ihnen eingeprägt haben.
Die Ideologien sind also, könnten wir in Anlehnung an Marx’ Ausführungen über die Ware formulieren, ein vertracktes Ding, voller Mystizismus und Mucken. Sie schweben nicht im luftleeren Raum und haben doch ihr eigenes Gewicht, sie sind Produkt der Verhältnisse und führen dennoch ein eigenes Leben, sie sind nicht bloße scheinhafte Reflexe, aber doch auch nicht das bewußte Produkt des intelligiblen Menschen, sie sind überliefert und haben doch keine Geschichte – so erleben wir ständig das Paradoxon, daß Philosophen versuchen, die Verhältnisse ihrer Zeit zu beschreiben, indem sie sich mit längst verstorbenen Philosophen versunkener Zeiten auseinandersetzen. Die Gedanken sind eben nicht völlig frei. »Politische Revolution, intellektuelle Revolution, religiöse Revolution, all das entspringt aus ein und derselben Grundtatsache«, heißt es in der Interpretation des großen französischen Historikers |122| Lucien Febvre: »der ökonomischen Revolution. Das Kapital bildet sich. Und erzeugt bei seiner Bildung eine kapitalistische Mentalität. Tönt Gedanken, Gefühle und Glaubensgewißheiten in kapitalistischen Farben.« 109
Die Frage nach der Funktionsweise der Ideologie hat in den vergangenen hundertfünfzig Jahren alle Freunde besserer Zeiten beständig beschäftigt, und sie haben dabei die Bruchstücke, die Marx hinterlassen hat, ausgiebig diskutiert, gedeutet und interpretiert. Mit gutem Grund – schließlich handelt es sich um ein höchst brisantes Phänomen, das wesentliche Fragen aufwirft: Warum denn entwickeln die Unterklassen Vorstellungen, die sie mit ihrer Unterdrückung versöhnen, wie kommt es, daß Ausgebeutete ihrer Ausbeutung auch noch zustimmen? Warum wird Herrschaft nur im Extremfall mit Gewalt ausgeübt, viel häufiger aber mit dem Konsens der Beherrschten?
Bisweilen sind die Marx-Exegeten bei der Erörterung dieser Fragen in heftigen Zank verfallen. Wenn das Sein das Bewußtsein bestimmt, ist letzteres dann leerer Schein, schlichtweg belanglos? Warum aber sollen Weltverbesserer den Kampf um die Köpfe der Menschen führen, wenn die materiellen Verhältnisse die Bewußtseinsformen determinieren und sich mit der Umwälzung der ersteren aller ideologischer Nebel schon von selbst verzieht? Gegen so eine recht einseitige Interpretation der Marxschen Hinterlassenschaft hat schon Engels in seinen späten Tagen anzukämpfen gehabt. »Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das
in letzter Instanz
bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet«, heißt es in einem Brief, den Engels |123| 1890 an Joseph Bloch nach Königsberg richtete. »Wenn nun jemand das dahin dreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus … Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente … Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades. Wir machen unsere Geschichte selbst, aber erstens unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen … Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht … Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische
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