Marx, my Love
ein Meinungswechsler und passt insofern gut in das politische Berlin. Anna sollte sich nicht einmischen. Aber genau das hat sie ihr Leben lang getan. Sie kann nicht wegsehen, nicht still sein, den Dingen nie ihren Lauf lassen. Und erntet Schlamassel. Wie im Stark-Fall, der sie nicht loslässt.
Die Kripo fahndet nach den unbekannten Prostituierten und hat Harry Loos im Visier. Die Knödel mit den Beeren schmecken umwerfend, und jetzt nimmt sie Sibylles Teller mit dem Orangenquark, denn es wäre eine Schande, das Kunstwerk nicht zu vereinnahmen. Einen Grund zu essen gibt es immer. Dass die Damen am Nebentisch sie abschätzig mustern, irritiert nur einen Moment. Allein im Restaurant zu sitzen macht verletzlich. Besonders in diesem Tempel der Fleischbeschau. Hier sitzen die Gewinner des Systems und jene, die sich dazu zählen. Sie ähneln einander, Männer sind in der Überzahl, aber auch die Frauen erscheinen austauschbar: Sie tragen die Uhren, Kleidung und Schuhwerk des Erfolgs und schöne Visagen von blasierter Dynamik. Anna spürt die allgemeine Trostlosigkeit, die daran liegen mag, dass alle Angst vor dem Fall in die Tiefe haben. Der Gebrauch von Handys ist verboten, und trotzdem liegen sie auf den Tischen.
Wo hat Rosis Gesellschaft gesessen? An dem runden Tisch vor der Bar, schätzt Anna. Er sieht so prominent aus. Und der Typ, der jetzt hinter der Bar steht, muss der Manager sein. Er wurde, denkt Anna, passend zur Innendekoration ausgesucht: scharf an der Grenze des guten Geschmacks. Er trägt einen Anzug von blassem Rose, und natürlich muss er schwul sein.
Vorurteile, Anna: Wie soll sie achtzehn Jahre Erziehung aus ihrem Kopf verbannen?
Obwohl ihre Mutter nie ein fremdes Haus betreten hätte, selbst wenn es offen stand. Nun, sie hat es getan. Weder das Gartentor noch die Haustür waren verschlossen, und als auf ihr Klingeln niemand reagierte, ging sie einfach hinein. Zögerlich und nach dem Hund Ausschau haltend, doch Oscar war offensichtlich mit der Studentin unterwegs, die vielleicht vergessen hatte, hinter sich zuzuschließen.
Hausfriedensbruch, dachte Anna, während sie in der Halle stand und von Rosamunde belächelt wurde. »Ist keiner zu Hause?«, war ein Satz, der ihr Gewissen beruhigte, doch sie sagte ihn nicht allzu laut. Zuerst betrat sie den Salon, um nach ihrem Handy zu suchen. Deshalb war sie hier. Doch es lag nirgendwo, und so sah sich Anna veranlasst, die geschwungene Treppe hochzusteigen. »Hallo« zu rufen, war auf die Dauer ermüdend, deshalb stellte sie es ein. Und hielt auf der letzten Stufe abrupt inne, als sie Stimmen hörte.
Sie erkannte Lenz auf Anhieb, die andere Stimme war ihr unbekannt. Sie gehörte einem Mann, und er sprach laut und offensichtlich erregt. Anna wagte noch ein paar Schritte auf Zehenspitzen in Richtung der Stimmen, die Neugierde war viel stärker als die Angst vor Entdeckung. Ihr flacher Atem sagte ihr, dass sie etwas Verbotenes tat. Und immer schon hatte das am meisten Spaß gemacht.
»Ich gehe hier nicht weg, bis ich den Film habe«, sagte die unbekannte Stimme.
Jacob Lenz: »Willst du mich foltern, um ihn zu kriegen?«
Sie proben eine Szene, dachte Anna. Die andere Stimme klang nach einem deutschen Schauspieler, sie kam bloß nicht auf den Namen.
»Wenn es sein muss. Ich habe mich lange genug von euch unter Druck setzen lassen. Es reicht, Jacob. Gib mir den Scheiß-Film, und wir vergessen alles.«
»Man vergisst Niederlagen nicht. Und du bist ein Feigling, also wovor sollte ich Angst haben?«
Nicht besonders gut, der Dialog, dachte Anna. Zumindest nicht oscarreif. Was sie an den Hund erinnerte. Wenn der jetzt die Treppe hochkommt, dachte sie, wird die Lage prekär. Dann hörte sie etwas, das wie ein Schmerzensschrei klang.
»Hör auf, Benno. Bist du verrückt geworden?« Das war Lenz, und der andere war Benno Mackeroth, der Schauspieler. Einer der Gäste bei Rosamundes letztem Mahl. Und Anna zog in Erwägung, dass dies kein Film war. Die Angst in Lenz’ Stimme klang echt.
»Gib mir den Film, und ich verschwinde.«
Lenz: »Hast du sie deshalb umgebracht?«
Anna erstarrte förmlich. Ein Täter, auf dem Silbertablett serviert, war genau das, was sie sich für diesen Fall wünschte. Oder für alle Fälle, denn immer war es unendlich schwer, durch das Dickicht aller Lügen zu dringen.
Doch Benno Mackeroth tat ihr den Gefallen nicht, ein Geständnis vor Zeugen abzulegen: »Weil sie damit meine Karriere ruiniert hätte? Nicht doch, Jacob. Wofür hältst du
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