Marx, my Love
Tischgesellschaft gehörte?«
»Nichts gesehen.« Marilyn wendet sich von Anna ab und zieht ihre Kollegin an ihre Seite. »Wir werden jetzt gehen. Danke, Fjodor, für die Einladung. Ich glaube, ich weiß jetzt, was wir tun.« Sie lächelt Anna kurz an, haucht dem Russen Küsse auf beide Wangen, dann entschwinden die beiden durch eine Menge, die sich bereitwillig teilt. Anna sieht die Blicke der erfolglosen polnischen Frauen und ahnt, was sie denken: Das Leben ist nicht fair.
»Schöner, als die Polizei erlaubt«, sagt Fjodor, und sein Dreifachkinn zittert vor Verlangen.
»Aber die eine ist stumm«, sagt Sibylle. »Kommt das vom vielen Blasen?«
»Sei nicht so vulgär.« Wenn Sibylle den Schauplatz wechseln will, neigt sie zu Ausfällen. Anna wiederholt den Wangenkuss der Verabschiedung und bedankt sich auch bei der Clubpräsidentin für die Einladung. Sie ist Reinigungsfachfrau am Flughafen Tegel, und eine der wenigen, die eine Arbeit mit Steuerkarte haben. Dies sagt sie Anna mit einem Seitenblick auf die Spendendose von gewaltigen Ausmaßen, die am Tisch vor der Tür steht.
Sibylle stopft einen Fünfzig-Euro-Schein in den Schlitz, sie hat allerdings, und das mindert die gute Tat, die Handlung ein wenig verzögert, sodass sie nicht unbeobachtet blieb. Das reicht für beide, denkt Anna und dreht sich an der Tür nochmals um. Die Stimmung ist jetzt heiter bis ausgelassen, und ein paar Frauen haben Tische und Stühle zur Seite gerückt, um Platz für eine Tanzfläche zu schaffen. »Die amüsieren sich auch ohne Männer«, sagt Sibylle, und es klingt beleidigend.
»Warum bist du nur so schlecht gelaunt?«, fragt Anna, während sie in eine Pfütze tritt. Sie hat nach oben geschaut in den grauen, regenverhangenen Himmel. Wenn Bananenschalen herumlägen, wäre das Malheur schlimmer. Aber wer isst noch Bananen auf der Straße?
»Weil es gleich regnet und wir keinen Schirm dabeihaben und ich gerade beim Friseur war. Außerdem habe ich mich zu Tode gelangweilt. Joy glotzte nur hübsch, und Fjodor troff der Speichel aus dem Mundwinkel. Gesang ohne Ende, warme Getränke und kalte Speisen. Frauen, die überwiegend nichts als Polnisch sprechen. Kein Sexualobjekt weit und breit! Warum zum Teufel sollte ich gut gelaunt sein?«
»Ich dachte, du bist mit diesem Journalisten zusammen, zurzeit.« Anna hakt die Freundin unter und zieht sie über die Straße. »Ich fand den Abend interessant.«
»Weil du die Monroe ausgequetscht hast. Hat der Schmollmund was verraten?«
»Nichts Bedeutendes.« Anna bleibt vor einem Schaufenster mit Schuhen stehen. Sandalen in leuchtendem Gelb erwecken ihr Verlangen. Eines Tages wird sie sterben, ohne etwas verstanden zu haben. Aber ihr Schuhschrank wird voll sein. »Komm, lass uns noch einen trinken gehen.«
»Nicht in die Kneipe. Die ertrag ich heute nicht. Wie heißt der Mann, der deine Stimmung ins Schwingen bringt?«
»Rafael.« Oh verflixt, das wollte sie nicht sagen. Anna sieht zu Boden und weicht einer Bierflasche aus. Eine Polizeisirene heult von einer Tragödie, die in dieser Stadt voller Menschen ganz normal ist. Wie die Autos, die Bürgersteige blockieren, die Jungs, die sie mit Graffiti besprühen, die kahlen Schläger, die den Zoff suchen, und die Liebespaare, die sich an Hausecken schmiegen. Sie wünschte, sie hätte geschwiegen.
»Ein prätentiöser Name«, sagt Sibylle befriedigt und drückt Annas Arm. »Ist er gut im Bett?«
»Geht so.« Anna wappnet sich für ein Kreuzverhör und geht schneller, um Sibylles Fragen und dem Regen auszuweichen. Auch sie träumt von einem Haus in der Sonne. Davon, Pflanzen beim Wachsen zu beobachten, und nicht Menschen, die kleiner werden von ungestilltem Verlangen. Aber hat sie Lust, als Greisin immer noch über Sex zu reden, bis ans Ende aller Tage? Denn in diesem Punkt ist Sibylle erbarmungslos.
»Was heißt: geht so? Form, Funktion, Kondition… kannst du nicht präziser sein?«
»Ich war so betrunken, dass ich mich an nichts erinnere. Außer dass es geschah.«
Sibylle glaubt ihr kein Wort. Als sie an der Kneipe vorbeigehen, späht sie durch die Scheibe in ihr Leben. Menschen, die Durst oder Hunger haben oder beides und noch viel mehr. Die Stillen und die Lauten. Die Musik, die sie schon tausendmal gehört hat, wie ihren Namen, den sie rufen, wenn sie etwas brauchen. Freddy hinter der Bar, anklagend hustend. Immer gut drauf, wenn die Libido stimmt. Das Klirren der Flaschen und Gläser und das Geräusch der Mixmaschine. Stets die gleichen
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