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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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Mikrofonträger bedrängen Polizei und Anwohner. Die Leiche ist bereits in einem Sarg verstaut. Sie ist nicht mehr wichtig, sozusagen dem Fokus des Geschehens entrückt. Hier geht es um die Lebenden: Was haben sie gesehen? Was ist geschehen?
    Agnes Pelcic stürzte vom Balkon des sechsten Stockwerks auf die Straße. »Wie ein Engel«, wiederholt die junge Frau, die ein wenig lispelt, vielleicht ist sie auch nur aufgeregt, weil sie noch nie so gefragt war und in einer Weise lebt, die keine Höhepunkte kennt. Dies ist einer. Sie lächelt in die Kamera und wird zur Seite gestoßen, als die Fernsehteams auf eine Blondine mit rotem Lederrock zustürzen. Sie weint und wird von einem Sanitäter gestützt, der auf sie einredet. Die Einkaufstüte neben ihr wird zertrampelt, als die Medienmeute auf sie losstürmt. Die Kamera richtet sich in Naheinstellung auf ihr Gesicht, bevor Polizisten einschreiten und sich schützend vor sie stellen.
    »Oh mein Gott«, sagt Anna, die vor ihrem Fernseher steht, bereits angezogen, aber noch ungeschminkt. Sie stellt die Kaffeetasse auf den Couchtisch, dies ist ihr Wohnzimmer, und nebenan, im Büro, schläft Lily immer noch, obwohl es bereits elf Uhr ist. Anna hat die Blondine sofort erkannt. Es ist Joy. Das Mädchen, das sie im »Club erfolgloser polnischer Frauen« getroffen hat. Zusammen mit Marilyn.
    Sie hieß Agnes Pelcic, und für Anna war sie Marilyn Monroe. Sie liegt in diesem Sarg, der jetzt in den Wagen geschoben wird. Noch einmal hält die Kamera auf Joys Gesicht: Es zeigt jenen Ausdruck des Nichtverstehens, die erste Reaktion auf eine Tragödie, die nie gedacht wurde.
    »Wieso hat Ihre Freundin Selbstmord begangen?«, schreit eine Journalistin. Ihr Mikrofon ist wie eine Waffe auf Joys Gesicht gerichtet. Sie hat ihre Hände auf die Ohren legt, weil die Fragen, die auf sie niederprasseln, wie Pistolenschüsse klingen müssen. Zwei Polizisten bahnen ihr den Weg zum Notarztwagen, sie entschwindet aus dem Bild, und jetzt zeigen sie die abgesperrte Stelle, wo der Körper aufgeprallt ist. Dann geht die Kamera nach oben, in den sechsten Stock, zu dem Balkon, dem Austritt, dessen Geländer so niedrig ist, dass jedes Kind darüber klettern könnte.
    »Eine Einladung zum Selbstmord«, kommentiert der Journalist die Bauweise, und Anna denkt, dass jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hat, keine Einladung braucht. Doch genau das hat Marilyn nicht getan: Sie war jung und schön und voller Gier nach allem, was das Leben bieten könnte. »Sie hat es nicht selbst getan«, widerspricht Anna dem Fernsehjournalisten, der über Selbstmordgefährdete in Plattenbauten stammelt, als wäre er Experte in Fragen von Leben und Tod unter architektonischen Gesichtspunkten.
    »Idiot.« Er hört es nicht. Er interviewt einen Nachbarn, der nicht weiß, was er antworten soll, es aber trotzdem tut. Der Mann ist Agnes ein paarmal im Lift begegnet und sagt, dass sie Model war und vor allem Ausländerin. Sie habe einen komischen östlichen Akzent gesprochen. Er sächselt.
    Es ist zu viel. Anna geht aus dem Zimmer in ihr Büro, um nach der schlafenden Lily zu sehen. Die Lage ist unverändert, und sie setzt sich an ihren Schreibtisch und betrachtet das grün umhüllte Wesen, während sie nachdenkt. Fjodor hat sie entweder angelogen oder es nicht gewusst: Marilyn und Joy sind nicht aus Berlin weg, sondern in dieser Wohnung geblieben, die sie vermutlich teilten. Weil sie sparen wollten für eine strahlende Zukunft. So viel dazu.
    Marilyn ist nicht freiwillig gesprungen, das ist Annas Ausgangshypothese. Sie wurde gesprungen – ein grammatikalisch mörderischer Satz. Jemand hat sie aus dem Weg gestoßen, weil sie zu viel wusste. Zum Beispiel Onkel Wanja, den sie mit ihrer Weigerung unterzutauchen, dem Risiko aussetzte, ein sehr lukratives Geschäft zu verlieren: den Callgirlring. Geld ist immer ein guter Grund für Verbrechen, selbst wenn Onkel Wanja als gütiger alter Mann beschrieben wurde. Andererseits: Wäre das klug, wenn gerade jetzt die Aufmerksamkeit der Polizei auf die Tote und ihre Freundin gelenkt würde? Um sicher zu sein, hätte er beide entsorgen müssen, und viel unauffälliger, als es hier geschehen ist.
    Joy war die Schwächere der beiden, und sie wird reden – und ihn damit erst recht in Gefahr bringen. Nein, wenn Onkel Wanja ein kluger alter Mann ist, hat er nichts mit Marilyns Tod zu tun. Er wird Joy einen Anwalt zur Seite stellen, der ihr rät, nichts zu sagen. Sie war offensichtlich einkaufen,

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