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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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Alle Frauen haben einen Hauch dieses Talents, sonst würden sie Männer nicht dazu bewegen, sie zu heiraten. Anna ist allerdings minder begabt. Und sie hat nicht die leiseste Ahnung, was von Lilys Gerede zu halten ist. Sie sagt, was ihr gerade einfällt, denkt Anna, ohne Anspruch auf Wahrheit oder Logik. Lily und Harry, das kann doch nur in eine Katastrophe münden. Zwei Traumtänzer, die sich auf dünnem Seil bewegen und alles vermeiden, das einer Bodenhaftung gleichkäme.
    »Was hast du sonst noch gesehen, Lily – in dem Lokal?«
    »Sie haben laut geredet und viel gelacht. Harry hat mit seiner kleinen Kamera Fotos gemacht… und dann ist er zurück, weil die Stark ihn entdeckt hat. Er ist in die Vorratskammer ausgewichen – und ich habe mich hinter dem Regal mit den Dosen versteckt. Dann ist er durch die Hintertür raus auf die Straße, und zwar kurz bevor sie… als ich sie zur Toilette gehen sah, habe ich mir nämlich überlegt, ob ich sie dort auf Harry ansprechen soll. Aber dann dachte ich, dass das kein guter Ort ist, also bin ich auch weg. Ist noch Brot da?«
    »Nein. Ich bin heute nicht zum Einkaufen gekommen. Ihr wart also beide weg, und du hast nichts weiter gesehen? Niemanden, der ihr folgte?«
    Lily schüttelt den Kopf. Ihre Glatze schimmert im Schein der Schreibtischlampe, und ihre Haut ist elfenbeinfarben.
    »Ich dachte, du wärst eine bessere Detektivin«, sagt Anna.
    Lily hat die Beine angezogen und stützt ihren Kopf auf die Knie. »Aber im Verfolgen bin ich gut. Manchmal hat Harry nichts gemerkt. Rafael sowieso nicht, der geht blind durch die Welt. Hat er dir eigentlich erzählt, dass er Rosi Stark hasste?«
    Willkommen im Club der Rosi-Hasser. Anna findet es bemerkenswert, dass Lily auf der anderen Seite steht. Und dass Rafael ihr nichts davon gesagt hat. Es war nur Sex, von Vertrauen war nie die Rede. Sie hat ebenfalls gelogen, also keinen Grund, ihn anzuklagen.
    Lily spielt mit dem Seidenschal. »Weil sie ihm immer das Trinkgeld in den Hosenbund gesteckt hat. Er fand das demütigend – und ordinär. Sie hat ihn auch einmal zu einer ihrer Partys eingeladen. Er hat nie darüber geredet, aber ich weiß, dass er wütend auf sie war.«
    »Aber deshalb bringt man doch keinen um! Oder war er etwa auch in dem Lokal?«
    Lilys herzförmiger Mund verrät die Andeutung eines Lächelns. Doch sie antwortet nicht.
    »Na komm, Lily, das ist jetzt ein dummes Spiel, und ich bin müde und will ins Bett. War noch jemand da, der nicht zur Tischgesellschaft oder zum Personal gehörte?«
    Sie legt den Kopf schief und sieht Anna lange an. »Ich glaube nicht. Kann ich hier schlafen?«
    »Nein.« Sie hat lange gebraucht, bis sie Nein sagen konnte, ohne sich schuldig zu fühlen. Doch seit Anna den Zauber dieses Wortes für ihr Wohlbefinden entdeckt hat, setzt sie es ein. Lily ist nicht beeindruckt. Sie lehnt sich in dem Sessel zurück, streckt die Beine von sich und schließt die Augen. »Er hat mir etwas gegeben, als ich in die Pubertät kam. Irgendwelche Pillen, damit ich wachse und stark werde. Aber das ist nicht passiert. Stattdessen sind mir die Haare ausgefallen. Büschelweise. Es sah sehr seltsam aus, und jeder Schulgang war ein Spießrutenlaufen. Irgendwann habe ich mir dann den Kopf rasiert, und jetzt wirkt es gewollt, nicht wahr? Rafael mag es. Harry auch. Er meint, dass ich damit klug aussehe. Stimmt das?«
    »Viel klüger als George Bush.« Anna gähnt hinter vorgehaltener Hand. Sie möchte ins Bett gehen. Ohne Lily. Schlafen bis in einen neuen Tag. »Ich muss dich jetzt wirklich rauswerfen, Lily. Vielleicht… hast du eine Ahnung, wohin Harry gegangen ist. Hat er irgendwo Freunde?«
    »Nein. Er hat nur mich und Rafael. Seine Verwandten mag Harry nicht. Er ist wie ich. Deshalb gehören wir zusammen. Kann ich noch Milch haben?«
    Sie will Nein sagen, doch Anna steht auf und geht in die Küche. Vielleicht ist Lily auch ein Katzenengel, Symbiose aller Lebewesen und Geister, die nur sich selbst umarmen. Völlig unmoralisch. Ein bisschen irre. Mit jener Aura von Schutzbedürftigkeit, der Männer wie Harry nicht widerstehen können. Rafael ist auch nur ein Mann. Und das Haus war kalt. Es gibt immer einen Grund, und der beste Weg, einer Versuchung zu widerstehen, ist, nach Oscar Wilde, ihr nachzugeben. Vielleicht geht sie, wenn Anna ihr Honig in die Milch gibt.
    Doch Lily ist in dem Sessel eingeschlafen. In einer Stellung, die Anna das Kreuz verbiegen würde. Die Verletzlichkeit einer Schlafenden hat Anna immer

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