Mary Poppins
würde er davonlaufen und zum Zirkus gehen. Schwupp! Weg war ein Knopf. Schön – da hatte er morgen weniger zu tun. Noch einer! Um so besser! Nichts in der Welt konnte ihn je dazu bringen, etwas zu bedauern. Er würde ins Bett gehen, ohne sich das Haar zu bürsten oder die Zähne – und ganz gewiß, ohne sein Nachtgebet zu sprechen.
Als er fertig und mit einem Fuß schon im Bett war, sah er den Kompaß oben auf der Kommode liegen.
Ganz langsam zog er seinen Fuß zurück und huschte auf den Zehenspitzen durchs Zimmer. Er wußte jetzt, was er tun wollte. Er wollte den Kompaß nehmen, ihn drehen und rund um die Welt fahren. Und nie würden sie ihn wiederfinden. Das geschähe ihnen recht. Ganz leise nahm er einen Stuhl und schob ihn an die Kommode. Er kletterte hinauf und nahm den Kompaß in die Hand.
Er schüttelte ihn.
»Nord, Süd, Ost, West!« sagte er rasch, damit keiner hereinkäme, ehe er fort war.
Ein Geräusch hinter dem Stuhl schreckte ihn auf, und er drehte sich schuldbewußt um, in der Erwartung, Mary Poppins zu sehen. Statt dessen standen da vier riesige Gestalten, die auf ihn losfuhren. Der Eskimo mit einem Speer, die Negerdame mit der Riesenkeule ihres Mannes, der Mandarin mit einem großen Krummschwert und der rote Indianer mit einem Tomahawk. Aus allen vier Ecken des Zimmers drangen sie auf ihn ein, die Waffen hoch über dem Kopf schwingend, und statt gut und freundlich auszusehen wie am Nachmittag, erschienen sie ihm nun voller Zorn und Rachedurst. Fast waren sie schon über ihm, ihre riesengroßen, schrecklichen, wütenden Gesichter rückten näher und näher. Er spürte ihren heißen Atem auf dem Gesicht und sah sie die Waffen schwingen.
Mit einem Schrei ließ Michael den Kompaß fallen.
»Mary Poppins – Mary Poppins – zu Hilfe, zu Hilfe!« brüllte er und kniff die Augen ganz fest zu.
Da fühlte er, wie ihn etwas einhüllte, etwas Weiches und Warmes. Was war das? Der Pelzmantel des Eskimos, der Umhang des Mandarins, das Hasenfell des roten Indianers, die Federn der schwarzen Dame? Wer hatte ihn eingefangen? Oh, wäre er nur artig gewesen – hätte er nur…
»Mary Poppins!« jammerte er, als er sich durch die Luft getragen und auf etwas noch viel Weicheres niedergelegt fühlte.
»Oh, liebe Mary Poppins!«
»Schon gut, schon gut. Ich bin ja nicht taub. Gott sei Dank! Kein Grund, zu schreien!« hörte er sie ruhig sagen.
Er machte ein Auge auf. Nichts deutete auf die Anwesenheit der vier Riesengestalten aus dem Kompaß. Um sicher zu sein, öffnete er auch das andere Auge. Nirgends ein Schimmer von ihnen.
Er setzte sich auf, schaute im ganzen Zimmer umher. Nichts war zu sehen.
Dann merkte er, das Weiche um ihn herum war seine eigene Decke und das Weiche, auf dem er lag, sein eigenes Bett. Und auch der schwere, lastende Druck, der ihn den ganzen Tag über gequält hatte, war spurlos vergangen. Er fühlte sich friedlich und glücklich und hätte am liebsten allen, die er kannte, etwas zum Geburtstag geschenkt.
»Was – was ist denn passiert?« fragte er Mary Poppins ganz ängstlich.
»Ich hab dir gesagt, daß das mein Kompaß ist, nicht wahr? Sei so gut und laß gefälligst meine Sachen in Ruh!« war alles, was sie antwortete, während sie sich bückte, den Kompaß aufhob und in ihre Tasche steckte. Dann begann sie, die Kleider aufzuräumen, die er auf dem Boden hatte liegen lassen.
»Soll ich das nicht machen?« fragte er.
»Nein, danke.«
Sie ging ins Nebenzimmer, und plötzlich kehrte sie zurück und gab ihm etwas Warmes in die Hand. Es war eine Tasse Milch.
Michael kostete mit der Zunge und trank dann langsam Schlückchen für Schlückchen, um Mary Poppins möglichst lange an seinem Bett festzuhalten. Er konnte ihre raschelnde, weiße Schürze riechen und den schwachen Duft von geröstetem Brot, der sie immer so köstlich umgab. Aber so sehr er es auch hinzuziehen versuchte, die Milch reichte nicht ewig, und schließlich gab er ihr mit einem leisen Seufzer die leere Tasse zurück und kuschelte sich im Bett zurecht. Ich hab noch nie gewußt, dachte er, wie behaglich es ist und zugleich, wie warm und wie wohl ich mich fühle, und wie glücklich ich bin, am Leben zu sein.
»Ist das nicht komisch, Mary Poppins«, murmelte er schläfrig. »Ich bin so ungezogen gewesen, und jetzt fühle ich mich so schrecklich wohl.«
»Gsch!« machte Mary Poppins. Sie deckte ihn gut zu. Dann ging sie hinaus, um das Geschirr abzuwaschen.
7. Kapitel
Die Vogelfrau
»Vielleicht ist sie
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