Masala Highway
Zimmerlautstärke. Konsequent wäre es, nun noch eine Augenbinde über das Gesicht zu legen, denn nicht alles, was ich sehe, ist unbedingt erfreulich. Vor allem nicht der Blick auf die Straße, den ich unverstellt genießen darf. Viele Pisten des indischen Straßennetzes sind sehr einfach gebaut: Geteert ist nur ein drei oder vier Meter breiter Streifen in der Mitte der Straße, rechts und links ist Sand. Schlaglöcher gibt es an den Rändern noch mehr als im Asphalt, und jeder, der so eine Straße benutzt, will möglichst lange auf dem geteerten Bereich bleiben. Entsprechend spät weichen sich zwei Fahrzeuge aus, wenn sie einander entgegenkommen. Wer wem ausweicht, ist klar geregelt: Der Kleinere dem Größeren. Kein Problem also, wenn ein kleines Auto einem großen Bus begegnet. Aber wenn ein solcher Bus einem kleinen Laster entgegenkommt, treffen die Fahrer oft erst dann ihre Entscheidung, wenn sie das Weiße in den Augen des Kollegen erkennen. Andere Faktoren – die Höhe der Kante am Übergang von Asphalt und Sand, am Rand spielende Kinder und wartende Kühe, Zustand von Bremsen, Reifen und Stoßdämpfern – beeinflussen die Entscheidung der Fahrer außerdem. Es bleibt also eine spannende Fahrt, und als es einmal richtig knapp wird, ruft der Fahrer, während er heftig am Lenkrad kurbelt, „Badmaash!“ – was in etwa dem entspricht, was an deutschen Lenkrädern in vergleichbarer Situation gesagt würde.
Ganz ungefährlich ist Reisen auf Indiens Straßen nicht. 2008 soll es auf dem Subkontinent 100 000 Tote im Straßenverkehr gegeben haben – damit gehört Indien zu den traurigen Spitzenreitern in der Welt. Der augenfälligste Grund ist der schlechte Zustand der Straßen. Darüber hinaus sind immer mehr Vierräder unterwegs, es gibt es keine Verpflichtung zu einer technischen Überprüfung von Fahrzeugen, und auch Fahrschulunterricht ist etwas Exotisches – wer einen Führerschein will, dessen größte Sorge ist die Bürokratie, die zweitgrößte die fälligen Gebühren. Die Folgen sind regelmäßig am Straßenrand zu sehen: Laster, die Räder zum Himmel gerichtet, die das Gefälle am Straßenrand und Überladung umstürzen ließen. Wenn die Besatzung es überlebt hat, wird so ein Laster mit ein paar Seilen und einer Zugmaschine wieder auf die Reifen gestellt und, wenn alles in Ordnung scheint, die Reise fortgesetzt. Bei Totalschäden bleiben die Wracks am Straßenrand liegen, bis ein Schrotthändler die Reste abholt.
Wirklich unsicher fühle ich mich aber nicht. Der Busfahrer wirkt gar nicht lebensmüde, und außerdem sitzt Ganesha, der Elefantengott, genau in der Mitte der Fensterablage, über dem Motorblock. Er ist einer der populärsten Götter im Himmel der Hindus, ein Glücksbringer, Spaßmacher, einer, der das Leben liebt – was soll da also schief gehen?
Autofahrer, die an die allgemeine Bekanntheit von Straßenverkehrsregeln, deren Befolgung und so schöne Erfindungen wie Fahrbahnmarkierungen oder Ampelschaltungen gewohnt sind, sollten sich überlegen, ob es lohnt, sich in Indien selbst ans Steuer zu setzen. Ich bin der Überzeugung, dass es das Risiko nicht lohnt. Das geringste Problem ist der Linksverkehr – die Gewöhnung an diesen gelingt mir schneller als die Umstellung auf Rechtsverkehr nach meiner Rückkehr nach Deutschland. Viel schwieriger ist es, sich an Gepflogenheiten und Gesten im Verkehr zu gewöhnen. Und wenn einmal ein Unfall passiert, liegt es nahe, die Schuld in jedem Fall dem hellhäutigen Ausländer am Steuer aufzuladen. Immer wieder hört man von Reisenden, die ernste Probleme nach Unfällen hatten – umso mehr, wenn dabei Menschen verletzt wurden. Von der Polizei um eine quittungsfreie Bearbeitungsgebühr erleichtert zu werden, gehört dann zu den kleineren Malheuren. Stattdessen bin ich immer gut damit gefahren, mich fahren zu lassen – sei es mit der Bahn 1 , in Bussen oder in einem Auto mit Chauffeur. Letzteres mag nach Luxus klingen, ist aber nicht nur aus Gründen der Sicherheit vernünftig: In einem Land ohne Straßennamen, ohne Schilderwälder und mit einer Vielzahl von Sprachen ist ein Fahrer mit ein wenig Ortskenntnis einfach notwendig.
Auch die Lastwagenfahrer in Indien sind sich der Gefahren ihres Berufs bewusst. Auch deshalb verzieren sie ihre Fahrzeuge. Bunt muss es sein! Geschwungene Zeichen, die auf dem Kühler, über der Windschutzscheibe oder am Heck aufgemalt sind, sollen dem Fahrer oder dem Besitzer der Trucks die Hilfe eines bevorzugten Gottes
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