Masala Highway
westlichen Zuschnitts mag für die indische Küche eine Bedrohung sein – Fertigpizzen und Mindesthaltbarkeitsdaten scheinen so gar nicht zur kulinarischen Welt des Subkontinents zu passen. Die ist deshalb so einzigartig, weil sie geschmackliche Gegensätze vereint, weil sie mit der Vielfalt bei der Wahl der Zutaten und Farben erfreut und weil über sie Traditionen weitergegeben werden. Aber es gibt Hoffnung: Die Liebe der Inder zum Essen mag auch die Eröffnung einiger Supermärkte überstehen. Ein Freund, der mir das Essen mit den Fingern beibrachte, erklärte mir seine innige Verbundenheit zu den Gaumenfreuden so: „Wenn Du mit den Fingern isst, dann nicht, um das Essen zu greifen. Sondern weil es zu schade ist, es erst mit der Zunge zu schmecken.“
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1 Without spicy it's boring: „Wenn's nicht scharf ist, langweilt's.“ Indglish, indisiertes Englisch, ist eine eigenwillige Sprachvariante, der man ständig begegnet. Aussprache, Grammatik und Wortschöpfungen sind abhängig von der Fantasie und dem Selbstbewusstsein ihrer Benutzer.
2 Siehe Kapitel „Vier Stunden, zwei Pausen, eine andere Welt“.
3 Mehr zu der Trennung und den Flüchtlingsströmen nach der Staatsgründung 1947 steht im Kapitel „Die Geister von Gurgaon“.
4 Delhiwalla: ein Mann, der in Delhi lebt.
Auch Heilige müssen arbeiten
Er ist Govinds ganzer Stolz. Die mächtigen Hörner hat der Bauer blau angemalt, kleine goldglänzende Glöckchen zieren die Spitzen. Govind hat nur diesen einen Bullen, erzählt er mir. Es ist ein bescheidener Hof am Rand eines Dorfes in Maharashtra. Govinds Chappals sind blaue Plastik-Flip-Flops, sein Dhoti 1 sowie sein Hemd, die Kurta, sind strahlend weiß. Der Stall ist ein zu einer Seite offener Verschlag, dessen Dach mir etwa bis zur Stirn reicht, unter dem der Bauer und sein Vieh aber aufrecht stehen können. „Gegen den Regen und wegen der Sonne“, erklärt Govind. In der Monsunzeit wird es hier zwischen den Lehmwänden eng, denn die Ziegen haben keine eigene Behausung. Der Bauer nimmt einen Stock und gibt seinem Lieblingsrind, das es sich im Schatten gemütlich gemacht hat, mit einem kurzen Ruf einen Klaps aufs Hinterteil. Ist das Rind nicht heilig? Govind wackelt bestätigend mit dem Kopf und lacht verlegen. Und treibt den Bullen mit einem weiteren Klaps weg von der Hütte, Richtung Feld. Später wird er es vor den Pflug spannen. Er verehrt das Tier, ganz klar. Arbeiten muss es trotzdem.
Die Seele, glaubt ein Hindu, wird als Tier oder als Mensch wiedergeboren – das bedeutet auch, dass Tiere so zu respektieren sind wie Menschen. Auf dem Land leben die Menschen noch so eng wie vor Jahrhunderten mit ihren Tieren zusammen, Govinds Lehmhaus steht nur wenige Schritte vom Stall entfernt. Auch in den Städten begegnet man Tieren, anders als in Europa, auch außerhalb der Bratröhre. So ist es kein Wunder, dass auch in der indischen Götterwelt überall Tiere zu finden sind: Als Reittiere begleiten sie die Gottheiten, wie die Ratte (den elefantenköpfigen) Ganesha, oder lassen sich von ihnen beschützen, wie bei Vishnu, der unter einer großen Schlange sitzend dargestellt wird. Schwäne, Fische, Antilopen, Büffel, Schildkröten – die Bildsprache der indischen Mythologie ist angefüllt mit Vierbeinern und geflügelten Wesen.
Die Kuh nimmt auch in der Wirklichkeit eine Sonderstellung ein. Gerne auch mitten auf der Straße. Mit großer Gelassenheit und umflutet vom chaotischen Verkehrsgetümmel stehen Kühe auf den Straßen in indischen Städten, starren vor sich hin und laufen scheinbar unvermittelt ein paar Schritte weiter. Niemanden wundert das: Autofahrer, die sonst um jeden Zentimeter auf dem Asphalt kämpfen, halten großzügig Abstand von dem Tier. Nur wenn eine Kuh einem Gemüsestand zu nahekommt, wird sie mit klatschendem Schlag auf die Seite umgelenkt. Doch es bleibt bei harmlosen Knüffen, und die werden meist sparsam eingesetzt.
Kühe gelten Hindus als heilig. Sie geben Milch, aus der Butter und Ghee hergestellt wird. Ghee wiederum ist fester Bestandteil der Opferzeremonie einer Puja. Die Ayurveda-Medizin nutzt den Urin der Tiere als Heilmittel, ihr Dung wird zum Bauen und als Brennstoff verwendet. Und auch auf dem Acker sind sie immer noch wichtig: Bauern wie Govind spannen Ochsen vor den Pflug, um das Feld zu bestellen. Die Kuh wird als Spenderin und Bewahrerin des Lebens angesehen – und in der Hindu-Mythologie tritt sie gleich mehrfach in diesen Rollen auf: Krishna
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