Masala Highway
wuchs als Hirtenjunge mit Kühen auf, Vishnu, der Bewahrer des Lebens, wird mit der Kuh identifiziert – und kaum ein Shiva-Tempel kommt ohne den ruhenden Nandi aus, den Stier, den Shiva als Reittier nutzt und den seine Anhänger mit Blumengirlanden schmücken.
So allgegenwärtig ist der Respekt vor den Kühen, dass ein Inder kein frommer Hindu sein muss, um in der Verletzung einer Kuh nicht nur einen Verstoß gegen den Glauben, sondern gegen das Leben zu sehen. Immer wieder versuchen Populisten, sich die Sympathien für Kühe zu eigen zu machen. Anfang 1996, als in Europa die Sorge um die Verbreitung der Creutzfeld-Jakob-Krankheit besonders groß war, und Großbritannien begann, hunderttausende Rinder zu keulen, unterbreitete die Vishwa Hindu Parishad dem britischen Gesundheitsminister ein verlockendes Angebot: Die Organisation, die übersetzt „Welt-Hindu-Rat“ heißt, wolle den Tieren in Indien Asyl geben. Die britischen Rinder traten nie die Überfahrt nach Indien an, doch der „Weltrat der Hindus“, eigentlich nur eine von mehreren hindu-nationalistischen Gruppierungen, hatte ein internationales Medienecho hervorgerufen – und erzeugte im eigenen Land viel Beifall für den Vorschlag.
Die Achtung, die Kühen entgegengebracht wird, bringt den Tieren auch Nachteile. Sehr oft werden Rinder nicht angebunden oder eingesperrt, denn ein Rind mit einer Leine um den Hals oder einem verschlossenen Gatter seiner Freiheit zu berauben, ist aus Sicht besonders orthodoxer Hindus auch eine Form von Gewalt. Eine schöne Regelung für ein Rind wie den Bullen von Govind, der sich aussuchen kann, ob er sich in seinen Stall, auf einen Feldweg oder unter einen Baum legt. Eine Stadtkuh dagegen wird so zur wiederkäuenden Verkehrsinsel. An die Stelle einer Weide tritt für solche Tiere der Rinnstein und der Müllhaufen, wo sie sich aus Weggeworfenem das herausziehen, was essbar ist. In vorindustriellen Zeiten mag das für das Dorfleben eine gute Lösung gewesen sein – die Tiere wurden satt und verwerteten nebenbei den Müll. Heute ist der Abfall zum großen Teil nicht mehr organisch. Die dünnen Plastiktüten, die man ständig bekommt, werden von den Kühen für Futter gehalten. Das kann lebensgefährlich für die Tiere sein, denn Plastik und anderer unverdaulicher Müll bleibt im Magen, der nicht genug normale Nahrung mehr aufnehmen kann. Die aufgedunsenen Kühe verhungern, wenn sie nicht vorher durch Magenerkrankungen eingehen.
Die Behörden und auch die Bevölkerung haben das als Problem erkannt. Die Verwaltungen der Megacitys verbannten freilaufende Kühe aus den Stadtzentren – und reagierten damit auch auf die zahlreichen Unfälle. In Neu-Delhi beispielsweise muss ein Kuhbesitzer, der sein Vieh unbeaufsichtigt durch die Straßen stromern lässt, damit rechnen, dass es von einem Fängerkommando mitgenommen wird. Verwurstet werden auch diese Tiere nicht – sie kommen ins Goshala. Diese Rinderfarmen, die es im ganzen Land gibt, sind Pflegeheime für herrenlose Rinder. Sie sind oft private Stiftungen frommer Hindus und finanzieren sich aus Spenden und dem Verkauf der Kuhprodukte.
Die Modernisierung Indiens macht aber auch vor dem Verhältnis von Menschen und Kühen nicht halt. Immer seltener halten sich Bauern Zugbullen: Je mehr Maschinen im Einsatz sind, desto weniger Bauern wollen noch das Geld aufbringen, das nötig ist, um sich männliche Rinder zu halten. Da der Markt für Rindfleisch verschwindend klein ist, haben Bauern nichts davon, Ochsen – anders als bei Milchkühen – durchzufüttern. So wenig Rinderschlachtungen es gibt, so neu ist es, dass der Markt für Rindfleisch überhaupt erwähnenswert ist: In Bangalore, wo Anfang der Neunzigerjahre ein Steakhaus von einer wütenden Menge verwüstet wurde, weil dort Rindfleisch auf der Karte stand, stehen heute fünf solcher Restaurants zur Auswahl. Bangalore ist eine der modernsten und stark vom Westen geprägten Städte Indiens, und viele ihrer Einwohner pflegen einen entsprechenden Lebensstil – so mögen die Steakhäuser dort für Indien eher die Ausnahme als die Regel bedeuten. Im gleichen Bundesstaat, in Karnataka, wird diskutiert, wie ein über vierzig Jahre altes Gesetz gegen Rinderschlachtungen heute durchzusetzen sei. Die eigentliche Sensation an der Auseinandersetzung sind für mich Leserbriefe in Zeitungen, in denen offen die Meinung vertreten wird, dass das strikte Verbot der Schlachtung von Kühen und des Verkaufs von Rindfleisch Minderheiten
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