Maschinenkinder
verschlimmern.
Flach atmend, die Tasche in der Hand, schleiche ich an den leeren, großen Räumen vorbei, dem Esssalon, dem alten Schlafgemach unserer Eltern, zum Zimmer im zweiten Stock, die Stufen hoch, wo er sich eingesperrt hat in seinen Käfig. Bedächtig folge ich der Wendeltreppe, eine Hand am Geländer, um meine Tritte abzufedern; es knarzt, ganz kurz, dann bin ich oben und kann auf dem staubigen Teppich weiterlaufen.
Am hinteren Ende des Korridors, zu dessen Seiten die Türen abzweigen, ist ein Erkerfenster eingelassen: Es hat noch dieses schöne, grobkörnige Glas, das einen Lichtzauber ausstrahlt, sobald Sonne hindurchfällt. Doch heute ist der Himmel trist, nur graue Wolken, regenschwanger.
Ein kahler Baum, von Wind bewegt.
Ich passe auf, dass die Einkaufstüte nicht knistert, während ich die letzten Schritte gehe. Die zweite Tür rechts. Meine Hände werden feucht, wie jedes Mal – nie kann ich vorher wissen, in welchem Zustand er gerade ist; oft lächelt Maurice, wenn ich sein Zimmer betrete; manchmal hat er den Raum verwüstet oder neue, blutige Dellen in die Wand geschlagen.
Noch einmal atme ich tief durch.
Dann klopfe ich an. Keine Antwort.
Das kann eigentlich nur heißen: Er hängt am Ambient, obwohl er eigentlich wissen sollte, dass ich um diese Uhrzeit komme. Egal. Immerhin kann ich so ohne großen Stress bei ihm aufräumen. Leise, ganz vorsichtig, gebe ich den Zahlencode ein, drehe am Türknauf, öffne.
Maurice sitzt am Bildschirm, den Rücken zu mir gewandt, und auf seinem kahlrasierten Kopf liegt die Sensecap, mit Kontaktgel fixiert, das ihm hinten in den Nacken getröpfelt ist. Er rührt sich nicht – atmet flach; wird die Augen geschlossen haben, um seine virtuelle Welt im Kopf nicht zu stören.
Machina, so heißt das Projekt, an dem er wie ein Besessener werkelt, Tag und Nacht, um totale Perfektion zu erreichen; jede Kleinigkeit, ein winziger Baufehler treibt ihn zur Raserei.
Wenn ich das miterleben muss … schrecklich: Ich fühle mich ohnmächtig und hilflos und weiß nicht, was ich tun soll. Sein letzter Ausbruch ist drei Wochen her. Hoffentlich nicht heute.
Bitte.
Nachdem ich die Tüte am Bett abgestellt habe, schaue ich mich sorgfältig um. Ich prüfe nach, ob sich bei ihm irgendwelche Anzeichen von Verwahrlosung finden lassen, denn davor habe ich am meisten Angst: dass Maurice sich nicht mehr wäscht; dass er die Behälter der chemischen Toilette nicht austauscht, nicht isst, nichts trinkt, während er in seinem Spiel – seiner Welt – versinkt.
Ich gehe zu ihm. Beuge mich runter, um an seinem Hemd zu schnüffeln, doch es riecht nicht nach Schweiß, Gott sei Dank, und die Hose hat keine Flecken. Mir fällt nichts Verdächtiges auf, außer dass er keine Socken trägt, aber es ist warm hier drin, stickig sogar – ein leichter Geruch von Kaffee und Desinfektionsmitteln in der abgestandenen Luft.
Hinten, in der Ecke neben dem Bücherregal, dem Soundwürfel, steht ein Kanister mit reingestecktem Waschtrichter, den ich hochhebe und sorgsam entferne, damit kein Wasser daneben tropft. Die Seifenlauge im Behälter wirft eisblaue Bläschen, ein gutes Zeichen, Maurice hat sich eben erst gewaschen. So nehme ich den vollen Kanister, stelle ihn vor die Tür … dann kann ich ihn später im Bad ausschütten. Einen leeren hat er noch, das sollte reichen bis übermorgen.
Als ich wieder zum Computer gehe, fällt mir auf, dass Maurice alle Poster abgehängt hat, und das, obwohl er sich sonst von nichts trennen kann: ein Demoplakat gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe, zwei Poster von Betonmusik-Gruppen, mit deren Musik er meine Eltern in den Wahnsinn trieb. Endlich sind diese verknitterten alten Dinger weg, liegen zerknüllt im Papierkorb.
Ist das positiv? Vielleicht verlässt er langsam den Kokon und schaut nicht länger zurück, sondern nach vorn – in die Zukunft. Er ist jung; er könnte so viel aus sich machen; aber wenn ich ihn darauf anspreche, rastet er aus.
Zurück am Bildschirm mustere ich meinen Bruder, seine Schultern, den Kehlkopf, sein glattes, noch faltenloses Gesicht: Selbst die Augenbrauen rasiert er sich ab. Die Lippen sind blass, spröde und am Mundwinkel eingerissen; ob er genug getrunken hat?
»Zieh den Datenhelm an, ich muss dir was zeigen«, sagt er auf einmal, und ich schrecke zusammen, fege einen Becher mit Stiften beiseite. »Mensch, Bruderherz!«
Er lächelt flüchtig. »Hallo Sophie. Los, mach schon, die Anschlüsse liegen unterm
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