Masken der Begierde
das Journal in sein Versteck zurück. „Ich habe sie. Ich bin gleich bei dir.“ Sie schob die Truhe an Ort und Stelle und klopfte ihren Rock ab. Was wohl in dem Buch stand? Wer mochte es versteckt haben? Sie bezähmte ihre Neugier und entschied, sich abends damit auseinanderzusetzen.
„Hier, Liebes, was hältst du davon?“
Allegra beäugte die Spitze wohlwollend. „Ich glaube, das wird gut aussehen. Ich werde es ausprobieren.“
„Störe ich?“ Lucas erschien im Türrahmen und schlenderte in den Raum.
Allegra strahlte ihren griesgrämigen Bruder an, der in ihrer Gegenwart sofort zugänglicher wirkte. Sie streckte ihre Arme zur Seite und drehte sich im Kreis.
„Wie gefällt es dir?“, erkundigte sich Allegra eifrig.
Er beobachtete seine Schwester gequält und nickte. „Sehr hübsch. Zu welchen Anlass möchtest du das Kleid tragen?“
Allegra lachte. „Zu Lady Piktons Gartenfest selbstverständlich!“
Lucas warf Violet einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie tat, als verstünde sie nicht, was er bedeuten sollte. Ganz gewiss wollte nicht sie es sein, die Allegras Vorfreude jäh zerstörte. Mit Genugtuung sah sie, wie Lucas versuchte, die richtigen Worte zu finden. Währenddessen stieg Allegra euphorisiert auf einen Stuhl, um Rocksaum und Schuhe im Spiegel genau zu betrachten.
„Ich glaube, Ihr habt recht, Miss Delacroix. Die Schuhe passen nicht“, erklärte Allegra.
„Ally, wir müssen noch einmal über die Einladung bei Lady Pikton reden. Es ist keine gute Idee, dich und Miss Delacroix dorthin zu lassen.“
Allegra fuhr beleidigt herum, rutschte ab und fiel hart zu Boden. Sie lag der Länge nach da und stöhnte. Im nächsten Moment hockten Lucas und Violet neben ihr. Allegra setzte sich auf.
„Wie ungeschickt von mir“, klagte sie und bewegte ihre Gliedmaßen der Reihe nach.
„Hast du dich verletzt?“, erkundigte sich Violet besorgt.
Lucas fasste Allegra unter die Achseln und half ihr auf. Sie schrie schmerzerfüllt auf und knickte mit ihrem linken Bein ein. „Mein Knöchel“, quietschte sie.
Gestützt von Lucas humpelte sie zum Bett, während Violet nach der Zofe Lauren klingelte.
Kurze Zeit später kam diese mit kaltem Wasser und Bandagen zurück. Sie knickste. „Mrs. Harvey hat Medizin ins Wasser gegeben.“
Violet nickte und deutete auf das Nachtschränkchen. „Stell es dorthin.“
Sie legte die nassen Kompressen um Allegras schmerzenden Knöchel. Das Mädchen stieß während der Prozedur ein paarmal zischend die Luft aus. Als Violet Allegras Fuß hoch lagerte, warf sie einen Blick in Allegras Gesicht. Tränen standen in ihren Augen.
„Schmerzt es so sehr?“, wollte Violet wissen.
Allegra verneinte. „Werde ich bis zum Gartenfest kuriert sein?”, fragte sie ängstlich.
Lucas tätschelte ihre Hand und wirkte zugleich schuldbewusst wie auch erleichtert. „Wir werden sehen.“
„Soweit ich es beurteilen kann, ist der Knöchel nur verstaucht. Ein paar Tage Ruhe und ein wenig Schonung genügen. Du wirst auf dem Fest tanzen wie eine Waldnymphe, sofern uns dein Bruder seine Erlaubnis gibt“, versprach Violet und schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. Sie wandte sich an Lucas. „Ich werde mein Essen gemeinsam mit Allegra hier einnehmen.“
„Nein, Ihr solltet mit Lucas im Speisezimmer essen. Mir hat das Ganze ohnehin den Appetit verdorben.“
„Ich leiste dir gern Gesellschaft“, widersprach Violet.
„Ich bin bestimmt keine gute Unterhaltung. Außerdem bin ich müde“, behauptete Allegra und sah zu ihrem Bruder. „Lucas, überrede sie, dass sie mit dir zusammen isst!“
So kam es, dass sich die beiden beim Dinner gegenübersaßen und stumm ihr Menü zu sich nahmen.
Zum Abschluss ließ sich Violet erleichtert Kaffee einschenken und war in Gedanken schon oben bei Allegra. Als sie ihre Tasse geleert hatte, wünschte sie Lucas eine gute Nacht und erhob sich.
„Nein, bitte leistet mir Gesellschaft, Miss Delacroix“, bat Lucas.
Sie zögerte einen Moment. „Sollte ich Allegra nicht beaufsichtigen?“
„Sie kommt so lange allein zurecht“, entgegnete er.
„Und ihre Anfälle?“, unternahm Violet einen weiteren halbherzigen Versuch, denn im Hinterkopf überlegte sie bereits, ob und wie sie Lucas zur Teilnahme am Gartenfest überreden konnte.
Lucas beschloss, Violet nicht entkommen zu lassen und winkte ab. „Die Zofe wird bei ihr sein und Wache halten, bis Ihr hinaufkommt.“ Er stellte seine Tasse ab. „Ich habe mir Euer Empfehlungsschreiben noch
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