Masken der Begierde
zu ergattern”, schrie Mrs. Hendry. Sie legte ihre Hand hinter das Ohr. „Ich bin schwerhörig, spielt die reizende Miss Delacroix etwa auf dem Piano?“ Sie fixierte Violet, und Dankbarkeit erfüllte sie. Die alte Mrs. Hendry hatte – vermutlich ohne es zu wissen – Violet einen Ball zu gespielt, den sie umgehend zu ihren Gunsten nutzen würde. Die Gäste applaudierten.
Lucas erschien am Rand der Terrasse. Nach kurzem Zögern kam er zu Violet ans Klavier.
„Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt, Violet?“, zischte er.
„Könnt Ihr Klavier spielen?“, erkundigte sich Violet.
Er sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.
„Schnell, spielt Ihr Klavier?“, drängte sie.
„Selbstverständlich“, er klang irritiert.
Violet erhob sich und zwang ihn auf den Hocker, während sie zu Allegra eilte, die eben auf die Brüstung kletterte. Violets Furcht pulsierte in ihren Gliedmaßen. Wenn Allegra ausrutschte, abstürzte – sie könnte sich das Genick brechen. Schnell, aber vorsichtig näherte sie sich dem Mädchen und reichte ihm die Hand.
„Allegra? Kannst du mich verstehen? Gibst du mir deine Hand?“ Violet wusste nicht, ob ihre Worte zu Allegra durchdrangen, doch sie ergriff ihre Hand. „Allegra, wir klettern hier herunter. Hörst du mich?“ Sanft zog Violet an Allegras Hand. Tatsächlich befolgte Allegra Violets Anweisung, und Violet wurden die Knie weich vor Erleichterung.
„Und jetzt verbeugen wir uns.“ Violet legte ihre Hand zwischen Allegras Schulterblätter und übte leichten Druck aus. Wie eine Marionette gehorchte Allegra.
„Besitzen. Es gehört ihm. Alles gehört ihm, sagt er. Aber das stimmt nicht. Es ist unrecht”, erklärte Allegra mit monotoner Stimme, doch leise genug, dass niemand der Gäste sie belauschen konnte.
Violet nahm Allegra bei der Hand. „Komm mit mir. Wir suchen uns ein schönes Plätzchen, an dem du dich ausruhen kannst.“
Willig ließ sich Allegra ins Haus führen. In der Bibliothek gab es eine Chaiselongue, auf die Violet Allegra niederzwang. Sie schob dem Mädchen ein Kissen in den Rücken und strich ihr sanft über die Augen Richtung Nase. Allegra schloss die Lider.
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, und Lucas trat ein.
Er verharrte einen Moment, in die Betrachtung seiner ruhenden Schwester versunken. Seinem Blick wohnte etwas so väterlich-besorgtes inne, dass Violet dachte, er könnte genauso gut Allegras Vater sein und nicht nur ihr Bruder.
Unwillkürlich fragte sich Violet, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie einen Bruder oder eine Schwester gehabt, die sich so rührend um sie kümmerten.
Lucas trat auf Violet zu, und sie straffte sich, bereit, sich seine Strafpredigt anzuhören. Er griff nach ihrer Hand und nahm sie zwischen seine Hände. Sein Daumen streichelte ihre Hand.
„Danke“, äußerte er schlicht. Er sah zu Allegra. Sie hatte die Augen geschlossen, und die tiefen Atemzüge verrieten, dass sie schlief. „Sie ist noch nie direkt nach oder während eines Anfalls eingeschlafen.“
Violet neigte den Kopf. „Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht aufgeschreckt wurde.“
Lucas zuckte mit den Schultern und lächelte Violet an. Ihr wurde warm ums Herz, als sein Lächeln sie traf. Wie hypnotisiert sahen sie sich an. Violets Blut rauschte hörbar durch ihren Körper, und diesmal hatte es nichts mit Furcht zu tun. Ihr Pulsschlag vibrierte vom Scheitel bis zu ihren Fußsohlen, und sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Schließlich faltete sie sie vor ihrem Rock.
Lucas hob seine Hand, berührte ihre Wange, und unter seiner Geste prickelte ihre Haut. Er beugte sich vor, und Violet hielt aufgeregt den Atem an, als Lucas’ Lippen die ihren streichelten, dann küsste er sie sanft. Seine Hände umfassten ihre Taille, und Violet zitterte vor erwartungsvoller Wonne. Statt einer leidenschaftlichen Umarmung, einem wild-erotischen Kuss, blieb Lucas vorsichtig und zärtlich und löste dennoch einen wilden Aufruhr in Violet aus. Lucas beendete die Liebkosung und glitt mit den Fingerkuppen erneut über Violets Wange.
Violet schluckte. Ihr Körper summte, und ihre Knie fühlten sich verdächtig nach Gelee an. Sie strauchelte, Lucas hielt sie fest, und seine Mundwinkel zuckten amüsiert.
Ein Klopfen an der Tür und das Öffnen selbiger brachen den Bann und ließen sie auseinanderfahren. Mrs. Hendry steckte ihren Kopf herein. Sie nickte zufrieden und wandte sich an jemanden hinter der Tür.
„Sie sind hier.“ Mrs. Hendry trat ein. Ihr
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