Masken der Begierde
zuweilen nach den politischen Plaudereien. Auf Halcyon Manor war er weitab von den Tagesgeschäften des Empires. Hier regierten Ernte und Wetter das Gesprächsthema. Ein beschauliches Leben, der totale Gegensatz zur hektischen Großstadt, die er nur selten vermisste. Der Aufenthalt an der Brust des ton barg mehr Nachteile, als er bereit war, in Kauf zu nehmen. Immer die gleichen Gesichter, die Langweile, der Klatsch und Tratsch. Die ständigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen man sich kaum entziehen konnte, hielt man sich in der Stadt auf. All das bewog ihn, seinen Lebensmittelpunkt auf Halcyon Manor zu belassen.
Er war gefangen. Ein böser Zauber hatte ihn getroffen. Er wusste nicht, wann und wie es geschehen war. Eben noch hatte er den letzten Schluck Brandy getrunken, den letzten Zug seiner Zigarre genossen, und im nächsten Moment war er kein Mensch mehr. Ihm schien es, als würde er nur noch aus Verstand bestehen, und doch fühlte er seinen Körper. Das, was er dafür hielt. Es war keine menschliche Gestalt, er besaß keine Gliedmaßen, keine Stimmbänder, nicht einmal einen Mund oder Augen im herkömmlichen Sinne. Er nahm seine Umgebung wahr, aber auf eine sehr entrückte Weise. Sein Verstand ertastete die Grenzen seiner Existenz. Hart und glatt und kalt fühlte es sich an. Er drängte nach außen, doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, die Barriere zu durchbrechen. Unter ihm spürte er die Essenz, den Lebenshauch seiner augenblicklichen Erscheinungsform. Es lag nicht an ihm, ob sein Fortbestand gewährleistet war. Einzig da draußen entschied man über sein Überleben.
Sein Inneres war heiß und ohne Gestalt, tanzte, drehte, wirbelte herum. Immer wieder machte er einen Vorstoß gegen die Barriere, denn ihn verlangte es, nach draußen zu gelangen, irgendwohin, vielleicht zurück in seinen menschlichen Körper. Sein brennendes Ich starb, erstickte, verging jämmerlich. Die Essenz seines Ichs erstarb. Er war kein Mensch, hatte keinen Mund, keine Nase, keine Lungen, und doch erstickte er. Angst und Schmerz explodierten.
Über der glasharten Barriere tauchte ein diabolisch grinsendes Gesicht auf. Ein Mensch. Ein Mann. In seinen riesigen Augen flackerte ein ersterbendes Licht.
Und Lucas begriff: Er war eine Studierlampe.
Kapitel 8
Dass uns eine Sache fehlt, sollte uns nicht
davon abhalten, alles andere zu genießen.
Jane Austen
Lucas warf sich panikartig herum. Seine Arme und Beine bewegten sich, und Kälte kribbelte auf seiner Haut. Schmerz durchzuckte sein Handgelenk, als er gegen das Tischbein stieß, und sein Fuß fühlte sich heiß an. Es roch angekokelt, und das Hitzegefühl an seinen Zehen verstärkte sich. Er setzte sich auf und zog reflexartig seine Beine an. Fluchend schlug er auf seinen qualmenden Schuh, während der Gestank verbrennenden Leders widerlich penetrant den Raum füllt.
Lucas hustete und besah sich das Malheur genauer. Zum Glück war nichts weiter passiert. Ein paar Schuhe, die ihr Leben lassen mussten, erschien ihm der geringste Preis für seinen beginnenden Irrsinn.
Seine Kehle schnürte sich zu. Wie sollte dies nur enden? Er brauchte niemanden, der ihm diese Frage beantwortete.
Die Erinnerung an seinen Anfall, der Schock, den er durchlitten hatte, und nun die Furcht vor der Zukunft, die Angst um Allegra und deren Auskommen und das Entsetzen, das ihn durchflutete, wenn er daran dachte, wozu er vielleicht fähig wäre, wenn seine Anfälle schlimmer wurden, allein das trieb ihn in den Wahnsinn.
Der Druck in seinem Innern schwoll an, explodierte förmlich. Er griff nach dem Brandyglas und zerschmetterte es im Kamin. Der Klang des berstenden Glases beruhigte ihn. Lucas ballte seine Fäuste. Er brauchte etwas, jemanden. Er konnte unmöglich in diesem Zustand einschlafen.
Er brauchte …
Veilchenduft stieg aus seiner Erinnerung in seine Nase. Er musste an Violet denken. An ihr Lächeln. Ihre warmherzige Stimme. Ihre weiche Haut. Die sanften Hände. Seine dunkle Lust nach einem gefesselten, willenlosen Frauenkörper, nach Violets hilflosem, nackten Körper, der sich ihm gefügig darbot, erwachte, wollte ihn verbrennen. Er brauchte sie. Er wollte sich in ihr versenken. Seine Hände in ihrem Haar vergraben. Seinen Schaft in sie stoßen, sie reizen und erregen, bis ihre Lust sie forttrug und ihn mit sich riss.
Er rappelte sich auf. Wie ferngesteuert lenkte er seine Schritte in den Teil Halcyon Manors, in dem Violets Gemach
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