Masken der Begierde
Eine heisere Männerstimme erklang von rechts hinter Violet. Sie drehte sich nichts ahnend um und sah in das Gesicht von Wilbur Cotswold-Tawkley, Viscount of Hampstead. Seine wulstigen Lippen schoben sich überrascht vor, als er Violet entdeckte. Er war ein häufiger Gast im Hause ihres Vaters gewesen. Natürlich erkannte er sie sofort.
„Na, wen haben wir denn da?“, säuselte er. Auf seiner lichten Stirn war eine Locke mit Pomade festgeklebt, was ihm vermutlich ein verwegenes Aussehen verleihen sollte.
„Das ist Violet Delacroix, Miss St. Clares Gesellschaftsdame“, stellte Clara Sougham sie vor.
Violet knickste. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie Angst hatte, umzukippen. Lady Pikton machte Lucas und Wilbur miteinander bekannt und ließ sich von Cotswold-Tawkley zu Tisch führen.
„Lady Pikton, ist es nicht reichlich unkonventionell, Bedienstete einzuladen?“ Wilbur warf Violet einen hinterhältigen Blick zu.
Sie schluckte und sah weg. Sie kannte die böse Zunge des Viscounts und würde sich nicht provozieren lassen. Dafür spürte sie, wie Lucas sich versteifte. Offenbar hielt er ebenfalls nichts von Wilbur Cotswold-Tawkleys Standesdünkeln.
„Mein lieber Wilbur, Miss Delacroix ist mein Gast, ebenso wie Ihr. Ich wünsche keine Kritik an meiner Gästeliste“, erklärte Clara Sougham entschieden.
Wilbur hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. „Vergebt mir, Clara“, bat er mit öliger Stimme.
Violet unterdrückte ein Frösteln. Was mochte Wilbur im Schilde führen? Einer der Gründe, warum ihr Vater Wilbur die Freundschaft gekündigt hatte, war die Raffgier, die Wilbur an den Tag legen konnte. Violet hatte nichts, womit sie den Viscount bezahlen konnte, sollte er sie zu erpressen versuchen.
Während des ganzen Menüs gelang es Violet kaum, die exzellenten Speisen zu genießen. Alles schmeckte wie Sägemehl. Dazu kamen Lucas’ forschende Blicke. Sie wusste, dass er etwas ahnte, und überlegte, was sie ihm erzählen könnte.
Als die Tafel aufgehoben worden war und die Herren getrennt von den Damen ihre Zigarren und Drinks genossen, gelang es Violet, sich von den Damen abzusetzen. Sie suchte auf einem der Balkone Zuflucht.
Sie atmete tief ein und aus. Es war ein herrlicher Spätsommerabend, doch Violet hatte weder einen Blick für die Gärten Hemsworth Halls noch für den Mondaufgang. Sie schloss die Augen und umfasste das Geländer.
Im nächsten Moment wurde sie herumgerissen und gegen die Mauer gepresst. Sie fühlte, wie ihre Wange aufgeschürft wurde, als ihre zarte Haut an der rauen Wand entlangschrammte. Ein schwammiger Männerkörper presste sich an sie.
„Kleine Isadora, wie nett, dich wiederzusehen“, keuchte Wilbur an ihrem Ohr. „Ganz London sprach von deinem theatralischen Auftritt auf deinem Verlobungsball und deinem spurlosen Verschwinden.“
„Ich bin nicht diese Isadora, von der Ihr sprecht. Lasst mich los, Ihr tut mir weh“, quetschte Violet hervor.
Panik stieg in ihr auf. Wilbur hatte sie förmlich eingekeilt zwischen der Mauer und seinem Körper.
„Weißt du, kleine Isadora, gegen ein wenig finanzielle Unterstützung könnte ich vergessen, wer du bist“, grunzte Wilbur.
Violet bekam kaum Luft. Aus dem Inneren des Hauses hörte man Gelächter und das Knarren von Dielen. Niemand bemerkte die Vorgänge hier draußen auf dem Balkon. Violet schwankte zwischen Erleichterung und Entsetzen.
„Ich habe kein Geld“, schluchzte sie.
Wilbur Cotswold-Tawkley streichelte ungelenk ihre Wange und drückte dann die seine an ihre. „Dann musst du deinen Earl dazu bringen, dir etwas zu borgen. Ein hübsches Mädchen wie du hat ihre Mittel und Möglichkeiten, alles zu erhalten, was es benötigt“, raunte er.
Violet wand sich erfolglos gegen seinen Griff.
„Finger weg!“, bellte eine Stimme.
Im nächsten Moment riss jemand Wilbur von ihr fort und schleuderte ihn gegen die Wand. Violet flüchtete sich hinter ihren Retter.
„Rührt Miss Delacroix noch einmal an, Sir, und ich breche Euch sämtliche Knochen!“, knurrte Lucas.
Er baute sich kampfbereit vor dem Viscount auf. Der richtete sich auf, als wäre nichts weiter geschehen.
„Violet Delacroix, was?“ Er lachte hämisch. Wilbur klopfte sich den Staub vom Jackett, und nur sein schmerzverzerrtes Gesicht verriet ihn. „Ihr solltet Euch fragen, ob die Dame Euer Vertrauen wert ist.“
„Wagt Euch noch einmal in Miss Delacroix’ Nähe oder redet mit jemandem über sie und das Geschehene hier, und Ihr
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