Masken der Begierde
überhaupt vor ihrem Zimmer, wenn er nicht eintrat? Über diesem Gedanken schlief Violet ein.
Violet saß am Fenster und bestickte ein paar Handschuhe, die sie Allegra zum Geburtstag schenken wollte, während Allegra sich ihre Zeit mit der Gartenschere an den Blumenbeeten vertrieb.
Violet zuckte zusammen, als die Tür aufflog.
„Sieh nur, was du angerichtet hast!“ Lucas stürmte aufgebracht in den Morgensalon. Er wedelte mit einem Billett vor Violets Nase herum, sodass sie sich gezwungen sah, das Schreiben entgegenzunehmen.
„Eine Einladung zu einem Dinner bei Lady Pikton“, las Violet stirnrunzelnd. Sie blickte Lucas fragend an. „Und inwiefern soll das meine Schuld sein?“
Lucas hielt seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Du hast das in Gang gesetzt, als du das Weib besucht hast“, knurrte er. „Diese penetrante Frau überschüttet mich mit Billetts für diese stumpfsinnige Abendgesellschaft. Allegra und ich führten ein so beschauliches Leben, ehe du alles in Aufruhr versetztest.“
„Die wie vielte Einladung ist das denn?“, erkundigte sich Violet ruhig. Also versuchte er, Einladungen zu umgehen, indem er sie abfing und nicht beantwortete oder absagte. Kein Wunder, dass seit Wochen keine Besucher mehr vor der Tür standen und keine Aufforderungen eintrudelten, bei Bekannten vorbeizukommen.
Lucas wich ihrem Blick aus. Stattdessen nahm er ihr das Billett ab. „Nur weil ein Mal alles ohne größere Katastrophen verlief, heißt das nicht, dass es ein zweites Mal funktioniert.“
„Dann überlegen wir uns etwas Neues“, erklärte Violet hitzig. „Du kannst Allegra nicht ihr Leben lang beschützen und einsperren. Sie muss ihre eigenen Erfahrungen sammeln, Menschen kennenlernen. Alles andere ist unnatürlich. Hast du dir einmal überlegt, dass die Anfälle ihre Ursachen in der Isolation haben könnten?“
„Unsinn!“, unterbrach Lucas Violet unwirsch. „Ich will nach wie vor nicht, dass Allegra ständig auf Festen und Einladungen herumscharwenzelt.“
Von der Tür erklang ein dumpfer Schlag.
Lucas und Violet wandten den Kopf und entdeckten Allegra, die in der offenen Tür stand. Neben ihr auf dem Boden lag ein umgekippter Korb voller Blumen und Blüten. Allegra starrte Lucas und Violet mit bleicher Miene an.
„Also doch“, presste sie tonlos hervor. „Du willst mich tatsächlich auf Halcyon Manor gefangen halten.“ Sie drehte sich herum und rannte davon.
Lucas stürzte aus dem Salon. „Ally, warte!“
Er stolperte über den Korb und trat ihn samt Inhalt in die Luft, sodass die Blumen als Blütenregen davonsegelten.
Violet folgte ihm.
„Hast du sie gefunden?“ Violet lief Lucas entgegen. Er schwang sich aus dem Sattel und reichte dem Stallknecht die Zügel.
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn.
„Vielleicht ist sie unterwegs zu Lady Pikton?“, schlug Violet vor. „Sie hat sich auf dem Gartenfest recht gut mit Leandra, der Nichte von Lady Pikton, unterhalten. Leandra ist in Allegras Alter“, fügte sie vorsichtshalber hinzu.
Lucas drehte sich um und winkte den Stallburschen zurück. „Ich werde nach Hemsworth Hall reiten“, erklärte er.
Violet sah ihm nach. Sie hatte das ganze Haus durchsucht, ohne eine Spur von Allegra zu finden. Sie konnte noch nicht weit sein. Außer den Bediensteten, Mrs. Hendry, Lady Pikton und Leandra Sougham fiel ihr noch eine weitere Person ein, bei der Allegra sein konnte: bei ihrem mysteriösen Freund Clark.
„Martin, wartet!“ Sie lief dem Stallknecht hinterher. „Wisst Ihr, wo ich diesen Clark finde, der hier ständig herumschleicht?“
„Der junge Sterling?“ Der Knecht grinste und entblößte mehrere Zahnlücken. „Aye, um die Tageszeit kontrolliert er seine Fallen.“
„Danke. Und wo befinden sich diese Fallen genau?“, erkundigte sich Violet besorgt.
Der Mann deutete unbestimmt in den Wald hinein, also ließ Violet den Mann stehen und begab sich auf die Suche nach Clark. Bei dem sogenannten Wald handelte sich nur um eine größere Ansammlung von Bäumen. Es wäre nicht unmöglich, einen Jungen und ein Mädchen dort ausfindig zu machen.
Violet zog ihre Stola fester um ihre Schultern. Im Wäldchen war es kühl. Der Geruch nach Harz und feuchter Erde stieg in ihre Nase. Der Boden unter ihren Füßen war weich und federte bei jedem ihrer Schritte. Schließlich hörte sie in einiger Entfernung Stimmen, und als sie sich vorsichtig näherte, entdeckte sie ihren
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