Masken der Begierde
Schützling hinter einer Hecke.
Allegra hockte auf einem umgefallenen Baumstamm. Neben ihr saß ein etwa gleichaltriger Jüngling. Sein dunkel gelocktes Haar hing wild und ungekämmt in sein Gesicht. Seine temperamentvollen, schwarzen Augen waren ganz auf Allegra gerichtet, die sich nicht im Mindesten daran zu stören schien, dass sein Hemd abgewetzt und seine Hose löchrig war. Im Gegenteil, vertrauensvoll schmiegte sie sich an ihn.
Violet konnte nicht verstehen, was die beiden plauderten, doch sie erkannte, dass Clark beruhigend auf Allegra einzureden schien. Er legte seinen Arm um ihre Schulter, woraufhin Violet ihren Körper anspannte, bereit, zu Allegras Schutz zu eilen.
Allegra hob ihren Kopf, und Clark beugte sich vor. Sein Gesicht kam ihrem immer näher, und dann küsste er Allegra. Es war ein keuscher Kuss, nur ein vorsichtiges Aufeinandertreffen der Lippen.
Violet zögerte. Sie wusste, wie sich Allegra fühlen musste, denn dass sie den Kuss genoss, konnte sie an Allegras Miene erkennen.
Clark legte seinen anderen Arm um Allegra und zog sie enger an sich.
Violet entschied, dass ein keuscher Kuss genug war, und rief nach Allegra, während sie um das Buschwerk herumlief, das sie verdeckt hatte.
Allegra und Clark stoben auseinander, saßen da und starrten Violet erschrocken an. Zu Violets Überraschung verschwand Clark nicht im Unterholz.
„Miss Delacroix, wie habt Ihr mich gefunden?“ Allegras Gesicht glühte tiefrot.
„Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wohin du dich flüchten würdest“, entgegnete Violet und warf Clark einen Blick zu. Der Junge fühlte sich sichtlich unwohl.
Allegra räusperte sich. „Miss Delacroix, das ist Clark Sterling. Clark, das ist Miss Delacroix.“
Clark sah Miss Delacroix kurz an und blickte zurück zu Allegra.
„Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Clark“, sagte Violet freundlich. Manieren von dem Jungen zu erwarten, war eindeutig zu viel. Sie wandte sich wieder an Allegra und streckte ihre Hand aus. „Komm, dein Bruder ist außer sich vor Sorge.“
Allegra verschränkte ihre Arme. „Er ist ein griesgrämiger Tyrann.“
„Er hat nur dein Bestes im Sinn, Allegra. Und ich verspreche dir, dass ich ihn überreden werde, dass du wie jede andere junge Dame der Gesellschaft Besuch empfangen und Festen beiwohnen darfst.“
„Euch glaube ich, Miss Delacroix, aber Lucas wird alles Erdenkliche tun, damit ich nicht aus dem Haus gelange.“ Sie wirkte störrisch und deprimiert gleichermaßen.
„Lucas hat dein Wohlergehen im Sinn. Er hat Angst, dass deine … körperliche Konstitution ein gesellschaftliches Leben unmöglich macht.“
„Der Einzige, der ein gesellschaftliches Leben verhindert, ist Lucas“, widersprach Allegra.
Da Violet ihr zustimmte, äußerte sie sich nicht und streckte ihre Hand nach Allegra aus. „Komm, lass uns das drüben im Haus bei einer Tasse Tee besprechen.“
Allegra seufzte, und Violet wusste, dass sie gewonnen hatte.
Allegra wandte sich an Clark und nickte stumm. Er blinzelte ihr zu.
„Gehen wir“, erklärte Allegra und lief voraus.
Violet folgte ihr und drehte sich nach ein paar Schritten um. Von Clark war nichts mehr zu sehen.
Kapitel 10
Schau zweimal hin, bevor du in Aktion trittst.
Charlotte Brontë
Lady Pikton zeigte sich überaus begeistert, als Lucas, Allegra und Violet kamen.
„Welch´ eine Freude, dass Ihr zu meinem intimen Abendessen erscheint, Lord Pembroke“, rief sie aus und begrüßte dann Allegra und Violet herzlich. „Allegra, Liebes, du musst uns bald mit einem Morgenbesuch beehren, oder wir kommen nach Halcyon Manor. Leandra spricht ständig von dir. Sie hat dich richtiggehend ins Herz geschlossen.“ Clara Sougham, Lady Pikton, lachte. Sie schob Allegra zu Leandra, ehe sie sich Lucas und Violet zuwandte. „Mein lieber Lord Pembroke, ich möchte Euch jemanden vorstellen. Vielleicht kennt Ihr Euch sogar.“
Sie hakte sich bei Lucas ein und ließ sich von ihm in das elegant eingerichtete Esszimmer mit riesiger Tafel aus der Werkstatt Chippendales und zahlreichen Silberleuchtern führen.
Einige Herren und Damen standen beieinander und plauderten.
Angespannt ging Violet an Lucas’ anderem Arm in den kleinen Saal und nickte den bekannten Gesichtern zu. Sie fühlte Erleichterung und war sicher, keinem weiteren Gast zu begegnen, den sich nicht schon von Lady Piktons Gartenparty kannte.
„Wo ist denn mein lieber Wilbur?“, säuselte Lady Pikton.
„Hier bin ich, Clara.“
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