Masken - Unter magischer Herrschaft: Roman (German Edition)
sich kühl und feucht an. Die Mauer war von Schlingpflanzen überwuchert, und die Kraft der Ranken hatte sie stellenweise zum Einsturz gebracht, doch sie schlängelte sich offenbar tief in den Dschungel hinein. Eine Stadtmauer!, schoss es Ferin durch den Kopf. Wie in Laigdan! Die Erkenntnis stürzte sie in noch tiefere Verwirrung. Sollte es hier in Pheytan eine Stadt gegeben haben?
Ferin stellte den Sack ab und nahm einen Schluck aus dem Wasserbeutel. Ziagál hatte es sich neben ihr bequem gemacht und wusste anscheinend nicht, was von ihrem Zögern zu halten war.
»Na, was meinst du?«, wandte sie sich an ihn. »Sollen wir weitergehen?« Ziagál sprang auf und reckte den Schwanz steil in die Luft. Was für eine Frage!, schienen seine Augen zu sagen. Natürlich! Ferin lächelte. Der Tiger hatte recht. Jetzt war sie schon so weit gekommen, da konnte sie nicht einfach umkehren, ohne sich Klarheit verschafft zu haben. »Na komm. Wir schauen uns ein wenig um.«
Sie ließ den Sack an Ort und Stelle liegen, stieg über verrottete Holzplanken, bei denen es sich um Überbleibsel des Tores handeln musste, und setzte ihren Weg fort. Es war, als beträte sie eine andere Welt. Hinter der Mauer wuchsen die Bäume weniger dicht, das Sonnenlicht erreichte die Erde, und der Boden war von Gras bewachsen. Hier war es nicht ganz so feucht, eine leichte Brise spielte mit Blättern und Gräsern und kühlte Ferins erhitzten Körper. Vielstimmiges Vogelgezwitscher erfüllte die Luft und wurde lauter, je weiter sie und Ziagál vorrückten, gleichsam als Begrüßung für die Ankömmlinge.
Nicht lange, und Ferin erblickte zu ihrer Linken ein Haus. Genau genommen war es ein Schutthaufen, in sich zusammengefallen und ohne Dach. Büsche wuchsen aus jeder einzelnen Ritze der Steinmauern. Aber dennoch: Es waren eindeutig die Überreste eines Hauses. Staunend und mit klopfendem Herzen lief sie weiter, sah in einiger Entfernung ein weiteres Haus, dann noch eines. Immer mehr Häuser säumten die Straße, bis sich eines an das andere reihte. Alle waren verfallen und von der Natur bezwungen. Wurzeln, Ranken und Geäst bohrten sich durch Fenster und Türen, sprengten Wände, hoben Fundamente, barsten Steinblöcke. Ferin stolperte über Dachziegel, Holzplanken und verrostete Metallteile, entdeckte Brunnen, Wagenräder und Steinblöcke, und ihr wurde schlagartig klar, woher Sobenios Besitz stammte. Sie fand Gemäuer mit eingearbeiteten Metallringen, wie man sie auch in Laigdan zum Anbinden der Pferde benutzte. Sie überquerte Plätze, stieg über Treppen, wandelte durch Bogengänge und bewunderte kunstvoll behauene Wände und verblichene Malereien, die Szenen aus dem Alltagsleben zeigten. Neue Straßen zweigten ab, bildeten ein weitläufiges Netz, und die endlosen Häuserzeilen links und rechts ließen die anfängliche Vermutung zur Gewissheit werden: Das hier war eine Stadt, und sie war riesig!
Schließlich blieb sie auf einem großen Platz stehen, drehte sich um sich selbst und konnte nicht fassen, worauf sie gestoßen war. Sie erinnerte sich an Tamirs Geschichte: Das Volk der Pheytaner stammte ursprünglich aus dem Dschungel. In ihrer Vorstellung hatten ihre Vorfahren in ebensolchen Hütten gewohnt, wie sie im Rebellendorf standen. Vielleicht ein bisschen geräumiger und komfortabler, ähnlich Sobenios Haus. Mit Palmwedeln gedeckt, Matten auf dem Boden und einer spärlichen Einrichtung. Nicht im Traum hätte sie hiermit gerechnet. Eine Stadt der Pheytaner! Hier hatte ihr Volk einst in Frieden und Wohlstand gelebt.
Ferin schwindelte, als ihr die Bedeutung ihrer Entdeckung bewusst wurde. Erstmals verstand sie wirklich, was Tamir und Sobenio versucht hatten, ihr zu erklären. Die Merdhuger hatten ihr Volk in der Ebene von Kanshor nicht bloß besiegt. Sie hatten es förmlich ausgelöscht. Mit der Konvention hatten sie den Pheytanern alles genommen: ihr Aussehen, ihre Kräfte, ihre Kultur, ihre Heimat und ihre Freiheit. Eine jahrhundertealte Geschichte war auf einen Schlag vernichtet worden. Unter einem Hautfetzen verborgen. Aus den Köpfen gestrichen. Nichts war ihrem Volk geblieben als der Glaube an eine Lüge.
Mit Hilfe der Maske erschufen die Merdhuger ein Volk nach ihrem Ebenbild, nicht nur äußerlich, sondern auch, was Gedankengut und Werte betraf. Sie gaukelten den Pheytanern vor, durch die Maskierung Schönheit, Freiheit und Gleichberechtigung zu erhalten. Brauchte es denn mehr, um glücklich zu sein? Wie schnell hatte dieser Plan
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