Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maskenball

Maskenball

Titel: Maskenball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Kuesters
Vom Netzwerk:
nach all der langen Zeit, dass er damals nichts unternommen hat, damals, an dieser verdammten Bahnlinie. Dabei hatte er gewusst, dass das Verhalten von Lehnert boshaft, gemein, gefährlich, und vor allem ungerecht Flusen gegenüber war. Er hat sich immer wieder Vorwürfe gemacht, dass er nicht eingegriffen hat, er nicht und die anderen auch nicht. Sie haben zugesehen, wie ihr Kamerad vor ihren Augen fertig gemacht wurde, wie Flusen zum Schluss auch noch als Fahnenflüchtiger dargestellt wurde. Mein Vater ist oft nachts wach geworden, wegen seiner Albträume. Sie alle haben damals gewusst, was das Wort ›Fahnenflucht‹ für Friedrich Flusen bedeutet hat.« Sie stockte.
    »Was ist damals passiert?« Frank flüsterte mehr, als dass er sprach.
    »Hans Lehnert hat sofort ein Standgericht einberufen. Seine Kameraden sollten sofort ihr Urteil fällen. Er fühlte sich als Ältester der Gruppe dazu berechtigt. Sie haben versucht, diese lächerliche ›Gerichtsverhandlung‹ hinauszuzögern, bis ihre Ablösung kam. Aber sie kam nicht, an diesem Nachmittag nicht und am Tag danach auch nicht. Wie sich später herausstellte, war die Kompanie abgerückt und hatte die Sieben einfach vergessen. So konnte dann passieren, was passiert ist. In dieser grotesken Verhandlung wurde Flusen natürlich der Fahnenflucht schuldig gesprochen, ihm wurden sämtliche Rechte aberkannt. Das Urteil des Standgerichts lautete dann auch ›Tod durch Erschießen‹. Das Urteil sollte sofort vollstreckt werden.«
    »Ist es vermutlich auch?«
    »Lehnert hat Flusen fesseln lassen. Gemeinsam haben sie ihn in ein nahes Wäldchen gebracht und an einen Baum gebunden. Als Flusen von Lehnert aufgefordert wurde, sein letztes Gebet zu sprechen, hat Flusen zu weinen aufgehört, Lehnert angesehen und um eine Augenbinde gebeten. Lehnert hat ihm dann einen alten Kartoffelsack über den Kopf gestülpt. Friedrich Flusen hat dann ein Gedicht aufgesagt, ein Gedicht, dessen Zeilen ich mein Leben lang nicht vergessen werde: ›Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde.‹ So hat mein Vater es mir erzählt.«
    »›Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.‹«
    Marlene Thürlings sah ihn erschrocken und irritiert an. »Sie kennen das Gedicht?«
    »Wir haben diese Zeilen bei den Toten gefunden.« Franks Stimme klang kratzig. »Hat Ihr Vater sonst noch etwas gesagt?«
    »Friedrich Flusen ist mit diesem Gedicht auf den Lippen gestorben. Als sich mein Vater und die anderen geweigert hatten, auf ihren Kameraden zu schießen, hat Lehnert sie ebenfalls verächtlich als ›Mamasöhnchen‹ bezeichnet und weggeschickt. Sie haben dann beim Verlassen des Wäldchens einen Schuss gehört. Lehnert hat Friedrich Flusen mit seinem Bajonett erst die Kehle durchgeschnitten und dann noch mit seiner Pistole aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Umgebracht wegen nichts. Wegen noch weniger als nichts. Der Krieg war da doch schon fast vorbei. Mir fehlen auch heute noch die Worte.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Mehr weiß ich nicht. Nur so viel, dass Lehnert später bei der Explosion in diesem Munitionsdepot von einer Mine zerrissen wurde, kurz bevor die Engländer ihn gefangen nehmen konnten.« Marlene Thürlings lachte kurz auf. Ihr Lachen klang bitter. »Ist das Gerechtigkeit? Sein Tod? Ich weiß es nicht. Die Leiche von Friedrich Flusen ist dann auf dem Friedhof in Breyell bestattet worden. In einem Reihengrab am Ehrenmal. Seine Eltern haben später versucht, von der Bundesregierung eine Entschädigung zu bekommen. Sie sind aber, soweit ich das weiß, mit ihrem Antrag gescheitert.«
    Frank schob seinen Becher ein Stück von sich weg und legte die Hände zusammen. Er musste das Ganze erst einmal verdauen.
    »Warten Sie, Herr Kommissar, bevor Sie gehen, muss ich Ihnen noch etwas zeigen.« Marlene Thürlings ging ins Wohnzimmer und kam mit einem Zettel zurück. »Den Zettel habe ich bei den Sachen meines Vaters gefunden. Versteckt zwischen seinen Hemden.«
    Frank erkannte ihn sofort. Er war aus dem gleichen Papier wie die anderen auch und trug die gleichen Worte. Auf ihm stand das Rilkegedicht, aus dem er gerade noch zitiert hatte.

XXV.
    »Ich begreife das nicht.« Ecki saß an seinem Schreibtisch, vor sich eine Kanne Tee und eine offene Schachtel Aspirin. Er hatte dunkle Ringe unter seinen Augen und sah blass aus. Sein stoppelig kurzes Haar war mit Gel notdürftig in

Weitere Kostenlose Bücher