Maskenball
sich nicht abwimmeln. Das hatte er auch nicht getan, damals nach dem Krieg. Damals, als er mit einem Musterkoffer voller Kurzwaren zu Fuß unterwegs war. Von Breyell bis nach Krefeld und von dort noch weiter. Und wieder zurück. Die Arbeit war ihm leicht gefallen, viel leichter als zuvor die Arbeit in der Brachter Ziegelei. Das Gewicht seines Koffers hatte er nicht gespürt. Und die heiße Sonne im Sommer war auch nicht heißer als der Ofen im »Pannenschopp«. Nein, nach dem Krieg waren Kurzwaren knapp und sein Musterkoffer begehrt. Später hatte er sich sogar ein Fahrrad leisten können. Mit dem Fahrrad den ganzen Niederrhein rauf und runter. Eine herrliche Zeit. Und die Frauen. Die Frauen waren immer nett zu ihm. Und er war nett zu den Frauen. Er hatte Schlag bei den Frauen. Sie haben ihn geliebt. Ihn und seine Kurzwaren.
Wie war er jetzt nur auf die Frauen gekommen? Ach, ja. Der Vertreter. Es war still an der Tür. Endlich still. Edgard Breuer hatte sich durchgesetzt. Er machte noch lange nicht jedem die Tür auf. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder Hinz und Kunz klingeln kommt? Hier bestimmte immer noch er, Edgard Breuer, wem und wann er öffnete. Er brauchte noch einen Schluck, einen kleinen, nur einen winzig kleinen. Dann ließ es sich besser denken.
Er hatte die Flasche schon in der Hand, als er das Klopfen hörte. Dieses leise Klopfen an der Wohnungstür. Ach was, da war nichts. Er goss sich das Glas halb voll. Es ging doch nichts über dieses Wässerchen. Es kratzte, aber weckte die Lebensgeister. Edgard Breuer fühlte sich stark. Da war dieses Klopfen wieder. Er schrak zusammen und sank gegen die Sessellehne. Er stellte das Wodkaglas auf den Couchtisch zurück. Dann wischte er die Ansammlung Zigarettenasche und Brotkrümel mit einem Supermarktprospekt achtlos vom Tisch. Er musste sich konzentrieren. Er horchte. Da. Einmal lang, dreimal kurz, einmal lang. Warum klingelte der Fremde nicht mehr, warum klopfte es nun an der Tür? Gierig griff Breuer zum Glas und trank einen großen Schluck. Er musste husten. Und wieder: Einmal lang, dreimal kurz, einmal lang.
Breuer versuchte sein Husten zu unterdrücken. Ich bin nicht da, die Wohnung ist leer. Ich werde nicht öffnen. Wieder fuhr er sich durch sein schütteres Haar. Was hatte das zu bedeuten? War er überhaupt gemeint? Breuer überlegte. Nein, das konnte nicht sein. Eine Verwechslung, ja, eine Verwechslung. Es musste eine Verwechslung vorliegen. Bestimmt war es so. Aber wieder: Einmal lang, dreimal kurz, einmal lang. Das konnte Breuer sich nicht erklären. Er schielte in den Flur. Der Fremde konnte ihn doch nicht etwa sehen, durch den Spion? Nein, das ging nur andersherum. Das wusste er. Und doch schob er sich mit den Füßen samt Sessel ein Stück zurück in die Zimmerecke. So konnte er auf keinen Fall entdeckt werden. So war er sicher. Er brauchte jetzt einen Schluck. Nicht, dass ihn das Klopfen beunruhigte. Einen Edgard Breuer konnte nichts beunruhigen, nach all dem, was er schon erlebt hatte. Ihn nicht! Andere, vielleicht. Aber nicht ihn. Auf keinen Fall. Er wollte wachsam sein. So wie er es gelernt hatte. Damals, als er wegen seines Beins nicht mehr richtig arbeiten konnte. Auf Wachmann hatte er umgeschult. Und meistens nachts gearbeitet. Dann hatte er seine Ruhe, dann konnte ihn niemand stören. Bis der Wodka in sein Leben kam.
Aber verdammt, das Glas stand ja auf dem Tisch. Und er kam nicht mehr an das verdammte Glas heran. Er beugte sich ein winziges Stück vor und fuhr gleich wieder zurück. Denn das Klopfen wurde stärker. Was sollte das bedeuten? Kam der Unaussprechliche, ihn zu holen? Das konnte nicht sein. Das musste eine Verwechslung sein. Ja, ja. Bestimmt. So war es! Er brauchte jetzt unbedingt einen Schluck. Zum Konzentrieren. Er musste nachdenken. Vielleicht doch öffnen? Nein. Auf keinen Fall. Niemals. Er hasste Überraschungen. Und er hatte angefangen, diesen Fremden zu hassen. Was bildete der sich überhaupt ein?
Edgard Breuer bemerkte es nicht. Aber er wimmerte. Irgendetwas in seinem Inneren machte ihm Angst. Er fror plötzlich. War die Heizung ausgefallen? Hatte er die Gasrechnung nicht bezahlt? Er hätte doch eine Jacke über sein Hemd ziehen sollen. Eine Ahnung trieb ihn um, ohne dass er sie in Worte fassen konnte. Er hörte ein leises Rascheln. Er hatte Angst, in den Flur zu gehen, um nachzusehen. Es konnte ein Brief gewesen sein, der unter der Wohnungstür hindurch geschoben wurde. Er würde nachsehen. Später. Viel später.
Weitere Kostenlose Bücher