Maskenspiel
Lehrstuhl besser zu durchschauen. Vorhin, nachdem Britta gegangen war, hatte Katinka ihre Notizen noch mal durchgesehen. Wie Julius Liebitz ihr beigebracht hatte, konnte es für die Ermittlungen nützlich sein, sich wortwörtlich aufzuschreiben, was die Leute einem sagten. Eine Menge Motivideen schwirrten durch Katinkas Kopf, während sie sich gegen den Aprilwind weiterkämpfte. Neid, Frustration, Rache, Hass, Versagensängste, übergroße Furcht vor dem Erfolg anderer. Aber letztlich konnte sie sich noch auf keines dieser Motive festlegen. Dazu durchschaute sie die Beteiligten zu wenig. Außerdem quälten sich auf dem modernen Arbeitsmarkt alle mit Frust, Angst, Mobbing und Selbstausbeutung herum.
Katinka fuhr nun den höchsten Gang ihres Fahrrades aus und wünschte sich ein Tachometer.
Sie passierte das Ortsschild und wandte sich nach links. Die Häuser hier mochten zwischen 10 und 20 Jahren alt sein. Etliche zur Leblosigkeit gepflegte Vorgärten und nichtssagende Fassaden reihten sich aneinander, unterbrochen von einigen eigenwilligeren und individuellen Anwesen. Die Nummer 12 lag links. Wie Helena Jahns-Herzberg ihr gesagt hatte, parkte ein weinroter VW Touran davor. Die Grundstücke grenzten an Wiesen und Rapsfelder, bedächtig schlängelte sich die Itz durch das üppige Grün und Gelb. Jenseits lag der Wald.
An die Gegend könnte ich mich gewöhnen, dachte Katinka, als sie ihr Rad an den kleinen Holzzaun anschloss und klingelte. Aber wahrscheinlich nicht an die Leute.
Ein Emailschild an der Haustür verkündete: Hier wohnen Helena, Hermann, Lieselotte und Marie . Katinka schluckte.
»Ach, haben Sie aber schnell hergefunden!«, tönte jemand, kaum dass die Tür einen Spalt weit aufging. Ein etwa vierjähriges Mädchen mit lustigen blonden Zöpfen schob die Nase heraus und betrachtete Katinka neugierig. Helena Jahns-Herzberg schob ihre Tochter beiseite und sagte:
»Grüß Gott. Sie sind sicher Frau Palfy.«
Sie trug einen beigen Hosenanzug aus einem schimmernden Stoff, den Katinka als eines dieser neuen Mikrofasergemische einordnete. Von schöner Helena konnte keine Rede sein. Frau Jahns-Herzberg wirkte dünn und knochig, hatte ein rechteckiges Gesicht, das blonde Haar fiel gerade und bewegungslos bis zum Kinn. Tussig, hatte Britta gesagt.
»Ihre Wegbeschreibung war absolut eindeutig«, sagte Katinka lächelnd. Sie stand immer noch vor der Tür.
»Ach, kommen Sie doch herein. Jetzt, Lieselotte, geh halt mal aus dem Weg.«
Das blonde Mädchen hielt sich immer noch am Hosenbein seiner Mutter fest. Ungeduldig machte Helena Jahns-Herzberg die kleinen Fäuste los.
»Wo haben Sie Ihren Wagen?«
»Ich bin mit dem Fahrrad gekommen«, antwortete Katinka, und sofort brauste die Kontrollwespe los. Hättest gleich mit einer Frage einsteigen sollen, kam es aus dem Luftraum in Katinkas Kopf.
»So? Von Bamberg bis hierher? Das sind ja mehr als zehn Kilometer.«
»Ja!«, sagte Katinka freundlich und lächelte wieder.
»Na, Sie müssen durchtrainiert sein.« In Katinkas Ohren klang die Bemerkung nicht nach Lob.
Helena Jahns-Herzberg führte sie in ein Wohnzimmer, dessen Einrichtung höchstwahrscheinlich von einem Mailänder Designer stammte. Herrliche Terrakotta-Fliesen bedeckten den Boden. Schränke, Regale und ein schön geschwungener niedriger Tisch glänzten in den sanften Maserungen von Kirschholz. Eine Ledersofagarnitur gruppierte sich locker um den Tisch. Auf gleicher Höhe wie das Wohnzimmer lag die Terrasse. Sie führte in einzelnen Treppen weiter nach unten in den Garten. Jenseits sah man das Itztal und den Wald.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Frau Jahns-Herzberg und fügte ein rasches bitte hinzu, als könne sie so ihren gehetzten Tonfall etwas aufmöbeln.
»Es geht um die Geschichte mit den manipulierten Dateien«, begann Katinka und wühlte in ihrem Rucksack herum, um ihr Notizbuch zu finden.
»Das sagten s ie schon.« Helena Jahns-Herzberg brachte mit einem schroffen »Jetzt nicht« die kleine Lieselotte zum Schweigen. »Wissen Sie, Frau Palfy, eigentlich habe ich Herrn Laubach nicht geraten, eine Detektivin zu engagieren. Es ist generell günstiger, solche Angelegenheiten im Kreis der betroffenen Gruppe zu regeln.«
»Haben Sie einen Verdacht, oder auch nur eine Intuition, wer hinter den unerfreulichen Betätigungen stecken könnte?«
Sie hat wirklich sehr dünne Lippen, dachte Katinka, während sie Helena Jahns-Herzberg direkt ansah. So schmal, dass sie fast verschwinden, wenn sie lächelt.
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