Maskerade
Nichtdazugehören. Der Reiz der neuen Atmosphäre nutzte sich langsam ab und wurde ersetzt durch das Bedürfnis nach Geborgenheit. Morgen würde die Schule beginnen, und sobald sie Pflichten zu erfüllen hatte, würde sie sich auch in diesem unpersönlichen Raum heimisch fühlen, aber vorerst mußte noch der lange Sonntag herumgebracht werden. Ihre Kleider waren ausgepackt, die Gardinen aufgehängt, die Bettdecke gebügelt, der erste Brief nach Hause zur Post gegeben, und jetzt hatte sie absolut nichts zu tun.
Nach einer Weile zögernder Unruhe entschloß sie sich, die vierte Kameradin aufzusuchen. Sie trottete den Gang hinunter und klopfte an die Tür, die der Melanies genau gegenüberlag. Sie hatte die Bewohnerin nur einmal bisher ganz kurz zu Gesicht bekommen, und zwar am Abend vorher, als sie sich im Bad die Zähne geputzt hatte. Als Liz hereingekommen war, war sie bis zu den Haarwurzeln errötet, hatte irgend etwas Unverständliches gestammelt und war dann hinausgestürzt, als würde sie von bösen Geistern verfolgt. Sie war klein, schmächtig und blaß und heftete ihre Blicke beim Gehen auf den Fußboden. Ihre Schüchternheit schien geradezu krankhaft, aber schließlich war sie hier auf der gleichen Schule und hatte das Zimmer auf einem Flur mit ihr, und daher war es undenkbar für Liz, daß die Türe das ganze Jahr über verschlossen bleiben sollte. Liz gab sich einen Ruck, klopfte und wartete.
Ihr Klopfen löste verschiedene hastige Geräusche im Innern des Raumes aus; dann wurde endlich der Schlüssel gedreht, und die Türe öffnete sich.
„Guten Tag“, sagte Liz entschlossen, „ich möchte mich gerne vorstellen. Mein Name ist Liz Gordon, und ich wohne am andern Ende des Flurs.“
Das Mädchen schaute Liz zuerst erschrocken an, schlug dann die Augen nieder und sah nicht mehr auf. Ihr Gesicht war so ausdruckslos, als habe Liz’ Erscheinen ihre sämtlichen Gedanken weggewischt und mit ihnen all das, was sie gerade hatte tun wollen. Es schien, als ob sie es unter allen Umständen vermeiden wollte, auch nur ein winziges Zipfelchen ihrer Persönlichkeit zu zeigen.
„Ich hoffe, daß mein Besuch dich nicht stört“, sagte Liz und steuerte kühn in das Zimmer hinein. Die andere klappte die Tür zu und blieb geduldig daneben stehen.
„Es macht mir nichts aus“, sagte sie mit einem schwachen, entschuldigenden Lächeln.
Liz nahm ihren ganzen Mut zusammen, setzte sich auf einen Stuhl und fragte: „Wie heißt du?“
„Penelope Saunders.“ Das Mädchen lief hastig zum Tisch, nahm ein Stück Papier an sich, stopfte es in die Schublade, verschloß diese, und dann blieb sie steif davor stehen. Ihr Gesicht war glühend rot vor Verlegenheit.
Dieses Unternehmen war also schwieriger, als Liz erwartet hatte. Sie schluckte tapfer und schaute sich um. Das Zimmer war größer als ihres, und Penelope hatte es mit einer Unmenge Bücher gefüllt. Die Vorhänge waren aus verwaschenem blauem Kord und die Bettdecke ein alter, grüner Baumwollüberwurf. Auf dem Tisch standen zwei Fotografien. Die eine zeigte einen sympathischen Mann vorgerückten Alters mit weißem Haar, die andere eine lächelnde Frau, gleichfalls nicht mehr jung, mit ergrautem Haar. Der einzige Wandschmuck bestand aus einer gerahmten Landkarte, aber Liz war nicht sicher, ob diese nicht zur Zimmereinrichtung gehörte.
„Welchen Kurs nimmst du?“ fragte Liz gewollt heiter. „Allgemeine Kunsterziehung“, gab Penelope mit gequälter Stimme Auskunft. Sie setzte sich scheu auf den äußersten Rand des Bettes und betrachtete Liz mit großen verlegenen Augen. „Das klingt interessant“, redete Liz unbeirrt weiter.
„Wo kommst du her?“
„Aus West-Pennsylvanien .“
„Oh, aus welcher Stadt?“
„ Fire Ridge .“
„Ich glaube nicht, daß ich davon schon einmal gehört habe.“
„Der Ort ist sehr klein.“
Die Blicke hatten sich wieder auf dem Fußboden festgebohrt, und Liz wußte, daß sie besser gehen sollte, um dieses Menschenkind in Ruhe zu lassen, aber sie hatte sich nun einmal vorgenommen, dieses Mädchen zu zwingen, von ihr Notiz zu nehmen, und sei es auch nur dadurch, daß sie ihr voll ins Gesicht sah.
„Glaubst du, daß es dir hier gefallen wird?“ redete sie also weiter, aber dann dachte sie, es sei nicht recht, die andere mit Fragen zu quälen, und darum fügte sie resolut hinzu: „Ich weiß noch nicht, ob ich gern hier sein werde. Alles wirkt noch sehr fremd, und ich komme mir vor, als sei ich nur zu Besuch. Jetzt sah
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