Maskerade
Sinne, wieder sah sie das verlockende Glas Wasser auf dem Nachttisch, um beim Erwachen erneut enttäuscht zu weinen. Ewigkeiten schienen zu vergehen, in denen sie nur immer von kaltem Wasser träumte, aber dabei bewegten sich die Zeiger ihrer Uhr quälend langsam auf dem Zifferblatt voran.
Ich muß wirklich sehr krank sein, dachte sie. Liz hatte recht, als sie sagte, ich hätte zu viel gearbeitet in letzter Zeit. Warum strenge ich mich eigentlich gar so an? Ach ja, damit ich soviel wie möglich lerne. Oder ist es etwa, weil ich mich seihst bestrafen will für die Lüge — die Lüge — die Lüge. Sie sank in einen bleiernen Schlaf, und als sie daraus hochschreckte , schien ein Feuer in ihr zu lodern, das sie langsam aber stetig aufzehrte. Einige qualvolle Minuten lang sah sie sich mit Benjie durch den glühenden Sand einer Wüste gehen. Ihre Lippen waren krustig vor Brandblasen. Sie versuchte, sie mit der Zunge anzufeuchten — und da merkte sie erst wieder, daß sie ja in ihrem Bett im Prewitt-Heim lag. Mit schmerzenden Augen starrte sie auf die Uhr und bemühte sich, die Zahlen zu entziffern. War es zehn oder gar elf? Noch immer diese Stille! Irgend jemand mußte doch jetzt im Haus sein! So lange konnten die Mädchen doch nicht alle ausbleiben? Oder waren sie inzwischen heimgekommen und schliefen bereits? War das möglich? Sie mußte auf Biegen oder Brechen Wasser haben! Fest biß sie die Zähne zusammen und schaffte es, sich auf den Bettrand zu setzen. Das ganze Zimmer drehte sich um sie wie ein Karussell. Trotzdem stellte sie sich auf die Füße, taumelte zum Schreibtisch, an dessen Kante sie sich festhielt, bis der um sie kreisende Raum einigermaßen Stillstand. Drei Schritte bis zur Tür! Soweit erinnerte sie sich. Das Wichtigste war, die Tür aufzuschließen. Warum hatte sie nur den Schlüssel umgedreht, nachdem Penny gegangen war? Sie fühlte die Maserung des Holzes unter ihrer Hand und dann das kühle Metall des Schlüssels. Er wollte und wollte sich nicht drehen! Cara biß sich die Lippe blutig vor Anstrengung. Da endlich hörte sie das schwache „Klick“, mit dem das Schloß nachgab. Sofort fing wieder alles um sie her zu schwanken und zu kreisen an. Sie spürte, daß sie zu Boden sank, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren, ebensowenig wie gegen die gräßlichen Schatten, die nun über sie herfielen, zerflatterten und sich dann erneut zusammenballten wie dunkle Wolken am stürmischen Himmel.
Irgendwann glaubte sie dann Schritte zu hören. Gleich darauf spürte sie, wie sich die Tür gegen ihren Körper stemmte. Es folgte ein Aufschrei von Liz und später Mrs. Coles’ Stimme: „Cara, wach auf! Cara, hier ist Wasser! Versuche zu trinken!“ Wasser! Sie öffnete die Augen, und da war das frostige Glas mit den klimpernden Eiswürfeln in der köstlich klaren Flüssigkeit, genau wie sie es in ihren Fieherphantasien gesehen hatte. Mit beiden Händen riß sie es an sich. Wasser! Welch einWunder das Wasser ist! Warum denkt man nicht öfters darüber nach, welch ein Geschenk das Wasser ist? Ein Tropfen nur! Wasser! Hinter ihr erhob sich eine Männerstimme, und sie wollte protestieren, denn im Schülerinnenheim waren doch Herren nicht zugelassen.
„Das Mädchen hat Grippe! Sofort ins Krankenhaus!“ hörte Cara jetzt. Sie lachte schrill auf.
„Sie ist wie im Delirium“, bemerkte jemand.
„Kein Wunder, bei diesem Fieber!“ Wieder die männliche Stimme! „Vermutlich ist es die asiatische Grippe. Rasch einen Krankenwagen! “
Cara war schon wieder in ihre Fieberträume zurückgefallen und kicherte jetzt wie irr vor sich hin. Dabei spürte sie, wie man sie in eine Wolldecke wickelte und wie plötzlich kühle, köstlich kühle Luft über ihr Gesicht strich. Irgendwie fühlte sie sich auf einmal wohl und leicht und heiter, bis das markdurchdringende Heulen einer Sirene ihre Traumwelt zerriß. Man hob sie auf und trug sie hin und her, es wurde ihr schwarz vor den Augen, und dann, als sie nach einer weiteren Ewigkeit die Augen wieder aufschlug, lag sie in einem Raum, der nach Desinfektionsmitteln roch, und neben ihr standen ein Mann im weißen Kittel und eine Krankenschwester.
„Ganz ruhig sein, kleines Fräulein“, sagte der Arzt, „wir müssen dieses Fieber wegkriegen!“
Wieder verschwamm alles; die Stimmen vermengten sich zu einem unverständlichen Raunen, bis sie dann die von Mrs. Coles deutlich erkannte: „Die Eltern sind bereits verständigt. Der Vater ist schon unterwegs von
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