Mathias Sandorf
Tunis«.
Der Doctor befand sich allein im Stadthause, als er Kenntniß von dem Inhalte dieses Briefes nahm. Es war ein Schrei der Freude und der Hoffnungslosigkeit, der ihm zu gleicher Zeit entfloh – der Freude, weil er endlich die Spuren von Frau Bathory gefunden hatte – der Hoffnungslosigkeit oder vielmehr der Furcht, denn die Poststempel zeigten an, daß der Brief schon vor einem Monat geschrieben worden war.
Luigi wurde sofort bestellt.
»Luigi, sagte der Doctor, benachrichtige Kapitän Köstrik, er solle Alles vorbereiten, daß der »Ferrato« in zwei Stunden unter Dampf sein kann.
– In zwei Stunden wird er in See stechen können, antwortete Luigi. Geschieht es zu Ihrem eigenen Dienst?
– Ja.
– Handelt es sich um eine weite Ueberfahrt?
– Nur von drei oder vier Tagen.
– Sie reisen allein?
– Nein! Bemühe Dich, Peter aufzusuchen und sage ihm, er solle sich bereit halten, mich zu begleiten.
– Peter ist im Augenblick nicht hier, doch wird er noch vor einer Stunde von den Arbeiten auf Kencraf zurückgekehrt sein.
– Ich wünsche auch, daß Deine Schwester sich mit uns einschifft, Luigi. Sie möchte ihre Vorbereitungen zur Abreise unverzüglich treffen.
– Sofort.«
Luigi ging fort, um die erhaltenen Befehle zur Ausführung zu bringen.
Eine Stunde später betrat Peter das Stadthaus.
»Lies!« sagte der Doctor.
Und er reichte ihm Borik’s Brief hin.
Sechstes Capitel.
Die Erscheinung.
Die Dampf-Yacht ging um Mittag unter den Befehlen des Kapitäns Köstrik und des zweiten Lieutenants Luigi Ferrato in See. Sie hatte nur den Doctor, Peter und Maria als Passagiere an Bord, welch’ Letztere beauftragt war, Frau Bathory Sorgfalt angedeihen zu lassen, für den Fall es unmöglich sein sollte, sie unverzüglich von Carthago nach Antekirtta zu befördern.
Man begreift, ohne daß ein directer Hinweis eigentlich noch nöthig wäre, die Herzensbeklemmungen Peter’s. Er wußte, wo seine Mutter sich befand, er sollte sie wiedersehen!… Doch warum hatte Borik sie Hals über Kopf von Ragusa fort und an die ferne Küste Tunesiens geführt? In welchem Elend würde man Beide antreffen?
Maria erwiderte auf die Klagen, die Peter vor ihr ausschüttete, unablässig mit Worten der Hoffnung und des Trostes. Sie fühlte jedenfalls etwas vom Walten des Vorsehung in der Thatsache, daß der Brief Borik’s beim Doctor eingetroffen war.
Es war Befehl gegeben worden, den »Ferrato« das Maximum von Schnelligkeit entfalten zu lassen. Mit Hilfe seiner Hitzapparate legte er durchschnittlich fünfzehn Meilen in der Stunde zurück. Die Entfernung zwischen dem Golfe der Sidra und Kap Bon, welches auf der äußersten Nordostspitze der tunesischen Küste gelegen ist, beträgt höchstens tausend Kilometer; von Kap Bon bis La Golette, das den Hafen von Tunis bildet, brauchte die schnell fahrende Dampf-Yacht nur anderthalb Stunden zur Ueberfahrt. In dreißig Stunden, vorausgesetzt, daß kein Sturm oder ein Unfall die Fahrt verlangsamte, konnte der »Ferrato« an seinem Bestimmungsorte anlangen.
Das Meer war außerhalb des Golfes ruhig, aber der Wind kam aus Nordwest, ohne eine Neigung zum Stärkerwerden zu verrathen. Kapitän Köstrik steuerte etwas unterhalb von Kap Bon auf die Küste zu, um bequemer den Schutz des Landes zu erreichen, für den Fall, daß die Brise plötzlich auffrischte. Er mußte also die Insel Pantellaria vollständig abseits liegen lassen, welche sich ungefähr auf halbem Wege zwischen Malta und Kap Bon erhebt, da er die Absicht hegte, so dicht als möglich am Kap vorüber zu fahren,
Außerhalb des Golfes der Sidra buchtet sich die Küste breit nach Westen aus und beschreibt eine Curve mit großem Radius. Dort entwickelt sich specieller das Gestade der Regentschaft Tripolis, das bis zum Golf von Gabes, zwischen der Insel Dscherba und der Stadt Sfax hinaufreicht; dann wendet sich die Küste wieder ein wenig nach Osten gegen Kap Dinias, um den Golf von Hammamet zu bilden, und dann entwickelt sie sich nach Süden und Norden bis zum Kap Bon.
Also genau genommen richtete der »Ferrato« auf den Golf von Hammamet zu seine Fahrt. Dort mußte er zuerst das Land doubliren, so zwar, daß er es bis La Golette nicht mehr zu verlassen brauchte.
Während des 3. November und der darauf folgenden Nacht schwollen die Wogen der offenen See sichtbar an. Es gehört nicht viel Wind dazu, um das Meer der Syrten aufrührerisch zu machen, durch welches die eigensinnigsten Strömungen des Mittelmeeres ihren Weg
Weitere Kostenlose Bücher