Mathias Sandorf
sich abgeschnellt hatte, war auf den Kranz einer der Terrassen gefallen, welche das die verschiedenen Höfe des Hauses beherrschende Minaret umgaben.
Inmitten der dunklen Nacht hatte ihn Niemand weder von außen noch vom Hause aus sehen können, nicht einmal von der Skifa; diese lag auf dem zweiten Patio, in welchem eine Anzahl von Khuans, theils schlafend, theils auf Befehl des Moqaddem wachend vereinigt war.
Pointe Pescade konnte begreiflicher Weise sich keinen feststehenden Plan zurechtgelegt haben, denn die verschiedenartigsten Umstände konnten eintreten und das Lustgebäude über den Haufen werfen. Die innere Eintheilung des Hauses Sidi Hazam’s war ihm nicht bekannt, er wußte ferner nicht, wo das junge Mädchen eingeschlossen war, ob sie allein sich befand oder bewacht wurde und ob ihr die physische Kraft zur Flucht nicht abgehen würde. Er sah sich deshalb genöthigt, auf gut Glück vorzugehen. Seine Ueberlegungen lauteten:
»Ich muß vor Allem, entweder mit List oder Gewalt, zu Sarah Sandorf dringen. Wenn sie mir nicht unverzüglich folgen kann, wenn es mir nicht gelingt, sie heute Nacht noch zu entführen, so soll sie wenigstens erfahren, daß Peter Bathory am Leben, daß er hier, am Fuße dieser Mauern sich befindet, und daß Doctor Antekirtt und seine Genossen bereit sind, ihr zu Hilfe zu kommen; schließlich, daß sie, wenn die Flucht nicht so schnell zu ermöglichen ist, keiner Drohung nachgeben soll…. Es ist ja allerdings möglich, daß ich, noch ehe ich sie sehen und sprechen kann, überrascht werde…. Doch dann habe ich noch immer Zeit, andere Entschlüsse zu fassen.«
Er sprang über die Brustwehr, eine Art weißschimmernden Wulstes, den Mauerzinnen durchbrachen. Seine erste Sorge war es nun, einen dünnen, mit Knoten versehenen Strick abzuwickeln, welchen er unter seinem leichten Clowngewande verborgen gehabt hatte; er befestigte das eine Ende an einer der Zinnen, so daß er außerhalb der Mauer bis zum Boden hinabhing. Es war das eine Vorsichtsmaßregel, die nur gutzuheißen war. Darauf wagte sich Pointe Pescade weiter vor und zwar kroch er auf dem Bauche die Brustwehr entlang. In dieser Stellung, welche ihm die Klugheit eingab, lauschte er mit angehaltenem Athem. Wenn er gesehen worden wäre, hätten die Leute Sidi Hazam’s gewiß bereits die Mauer erstiegen, und in diesem Falle konnte er für sein Theil schwerlich den Strick benützen, aus dem er ein Rettungsmittel für Sarah Sandorf hatte machen wollen.
Ein tiefes Schweigen herrschte im Hause des Moqaddem. Da weder Sidi Hazam, noch Sarcany, noch die Leute des Ersteren Theil an dem Feste der Störche genommen, so hatte sich die Thür der Zauiya seit Sonnenaufgang noch nicht geöffnet.
Nachdem Pointe Pescade einige Minuten gewartet, rutschte er nach der Ecke hin, in welcher das Minaret aufstieg. Die Treppe, welche den oberen Theil dieses Minarets zugänglich machte, führte jedenfalls zum Erdboden des ersten Patio hinunter. Eine Thür, die auf die Terrasse führte, ermöglichte das Herabsteigen zu den Erdgeschossen der inneren Höfe.
Diese Thür war von innen verschlossen, nicht mittelst eines Schlüssels – sondern mit einem Riegel, der von außen nur aufgestoßen werden konnte, wenn ein Loch in den Thürflügel gebohrt wurde. Mit dieser Arbeit hätte Pointe Pescade ganz gewiß fertig werden können, denn in seiner Tasche steckte ein mit den verschiedenartigsten Klingen versehenes Messer, ein kostbares Geschenk des Doctors, das er gut gebrauchen konnte. Aber die Arbeit hätte längere Zeit in Anspruch genommen und wahrscheinlich ein Geräusch verursacht.
Sie war auch unnöthig. Denn in einer Höhe von drei Fuß über der Terrasse befand sich in der Mauer des Minarets ein Lichtfenster in Form einer Schießscharte. Es hatte zwar nur einen geringen Durchmesser, aber auch Pointe Pescade war nur dünn. Besaß er im Uebrigen nicht auch die Gewandtheit einer Katze, die im Stande ist, ihren Körper zu verlängern, wenn sie einen kaum passirbar erscheinenden Weg zu nehmen wünscht? Er versuchte und mit einigen Abschürfungen der Schulter ging es: er befand sich bald im Innern des Minarets.
»Das hätte Kap Matifu gewiß nicht fertig bekommen,« konnte er zu sich selbst mit vollem Rechte sagen.
Er tastete sich bis zur Thür, deren Riegel er zurückschob um sie offen vorzufinden, wenn es nöthig sein sollte, auf demselben Wege zurückzukehren.
Er stieg die Wendeltreppe des Minarets hinunter und zwar ließ er sich gleiten, so daß er die
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