Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
nicht glauben, als ich es sah, aber da kroch sie tatsächlich. Seit H.S.S.H. kommt sie aus ihrer schrecklichen Verfassung nicht heraus. Es ist gemein, wenn Menschen, die man liebt, zu Tieren werden. Man fürchtet sich fast, in ihre Nähe zu kommen.

Fünfzehn
    Ich beobachte sie, aber sie merkt nicht einmal, dass ich da bin. Sie hat immer gesagt, sie habe Augen im Hinterkopf, aber die müssen blind geworden sein. Sie ist auf allen vieren in der Küche, ganz Hund, schnaufend und keuchend kramt sie lauter Zeug aus den Unterschränken. Ich halte es kaum aus, sie anzusehen. Ihre Fußsohlen sind schwarz.
    Was suchst du?, wollte ich schon fragen, aber da hat sie es gefunden. Eine Flasche. Ich springe aus der Türöffnung zur Seite und verstecke mich im Flur wie einer von der Kripo bei drohender Gefahr. Ich höre den Wodka
gluck gluck
ins Glas fließen. Ich höre sie trinken. Leise Töne aus ihrer Kehle. Es wäre der ideale Moment, hereinzuplatzen und sie zu erschrecken.
    Aber das mache ich nicht mehr. Jetzt überlasse ich sie einfach nur sich selbst. Ich beobachte sie aus einiger Entfernung, ich falle nicht über sie her. Ich würde gern, aber in letzter Zeit fürchte ich, sie zu töten, wenn ich etwas zu Schockierendes täte. Und mit Teller kaputt machen ist sie sowieso nicht zu erreichen. Da muss man irgendwie mit Psychologie drangehen, in solchen Fällen.
    Neuerdings ist Ma immer zu Hause, wenn sie eigentlich in der Schule sein sollte. Sie nimmt sich eine kleine Auszeit, sagt Pa. Vorige Woche war es am schlimmsten. Ich fand sie im Schlafzimmer, bei geschlossenen Vorhängen und ohne Licht. Mitten am Tag, aber sie machte ihn zur Nacht. Sie war nackt, das ist das Größte. Zusammengerollt und die Hand zwischen den Beinen. Das Geräusch würde ich ein Wimmern nennen. Ich glaube, entweder besorgte sie es sich selbst wie in Pas Zeitschriften. Oder sie weinte.
    Ich habe angefangen, mir Gedanken über ihre Einsamkeit zu machen. Bisher bin ich nie darauf gekommen, weil ja mein Vater da ist. Ehe bedeutet das Ende der Einsamkeit, aber vielleicht doch nicht.
    Jetzt trinkt sie wieder in der Küche, und bald wird sie schlafen. Das ist so ungefähr ihre neue Lebensart. Und bis Pa kommt, wird es noch Stunden dauern, weil er in der Schule so viel Arbeit hat, sagt er jedenfalls. Manchmal ist er zu Hause, bevor ich ins Bett gehe, und dann essen wir noch einen Happen in der Küche.
    «Wie geht es deiner Mutter?», fragt er regelmäßig.
    «Kopfweh», sage ich.
    «Gib ihr ein paar Tage Zeit», sagt er.
    Das sind gewissermaßen unsere Standardsätze.
    Manchmal denke ich, ich sollte zu ihr hingehen, zu ihr ins Bett klettern. Aber die Sache ist die, nachdem Helene gestorben war, habe ich monatelang geweint, und Ma war taub. Als Helene starb, war ich abgrundtief alleine. Pa war da, aber darum geht es nicht. Pa ist Pa, er ist nicht meine Mutter. Muttersein ist eine ganz andere Geschichte. Die Mutter hat angeblich großen Anteil am eigenen Leben.
    «Warum stehst du hier?», sagt Ma, als sie aus der Küche kommt.
    Sie hat das Glas noch in der Hand, und das Schreckliche ist, dass ich sie rieche, sobald sie sich mir nähert. Das Schreckliche ist, dass sie mich küsst. Ihre Lippen berühren meine Stirn, aber es ist keine Leidenschaft darin, es ist ein Zombiekuss. Und dann verschwindet sie in ihrem Dunst. Obwohl nichts zu sehen ist, qualmt es überall, in den hintersten Ecken des Hauses.
    Seit dem Terror sind fünf Wochen vergangen. Fünf Wochen seit H.S.S.H. Am Tag danach hat Pa ein paar Blumen mitgebracht, Sterngucker, Helenes Lieblinge. Ma hat sie in eine Vase gestellt undsie immer noch nicht weggeworfen. So, wie sie jetzt sind, kann man das nicht mal mehr Blumen nennen, eher Chips und Krümel. Wie im Irrenhaus, das kann ich Ihnen sagen.
    Zum Glück habe ich inzwischen eine Bibel. Anna hat sie mir geliehen. Ich hebe sie auf meinem Tisch auf, damit die Heiden sie auch sehen. Manchmal lege ich sie mitten auf den Küchentisch.
    Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
    Aber in Wahrheit ist nicht Gott das Wort. Das Wort ist Kalifornien – Hs Paradies, von dem sie immer sagte, dort werde sie leben, wenn sie älter sei. Als ich es in den Computer eintippte, gab es eine Pause, und dann kam die Musik, die beim Öffnen der E-Mail ertönt.
Willkommen, HeyGirl!
erschien in wundervollen blauen Buchstaben auf dem Bildschirm. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das Gefühl beschreiben soll. Es war wie ein Geschenk Gottes. Ich war

Weitere Kostenlose Bücher