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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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warum ich es abends manchmal mit der Angst bekomme, wenn ich dasitze und die beiden beobachte, wie sie lesen und kaum noch atmen, nur dass sich die Bücher heben und senken, als trieben sie oben auf dem Meer. Ob Ma wieder betrunken ist, wäre die andere Frage, aber wer fragt das schon. Halt den Mund und kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten, denke ich. Sie ist frei.
A free man in Paris
. Das war ihr Lieblingslied, das sie immer sang, als es im Haus noch Lieder gab. In den alten Zeiten.
    Oh, und die Unendlichkeit! Jetzt spukt sie mir wieder im Kopf herum. Daran zu denken hält einen wach, die ganze Nacht. Haben Sie es schon mal versucht? Die Unendlichkeit zu denken? Ein Unding. Schlimmer als die Vögel. Man kann sich sagen: Gut, stell dir vor, der Raum endet, das Universum endet, und ganz am Endeist eine Wand. Aber dann geht es los: Was ist hinter der Wand? Auch wenn sie fest wäre, müsste sie ewig weitergehen, eine feste Wand in die Unendlichkeit. Wenn ich in solchen Gedanken stecken bleibe, reiße ich mir immer ein paar Haare oben aus dem Kopf. Ich versuche, sie einzeln zu erwischen. Dann ziept es nicht. Man braucht Feingefühl wie ein Chirurg, um die Strähnen auseinanderzufieseln, bis man ganz sicher nur ein einziges zwischen den Fingern hat, ehe man zupft. Man muss sich bei der ganzen Prozedur furchtbar konzentrieren, und dadurch hört man auf, an andere Dinge zu denken. Man kommt wieder runter.
    Pa liest ein Buch über China, und Ma liest ausgewählte Dichtungen von Ezra Pound, das ist der langen Rede kurzer Sinn. Sie hat ihre Schuhe aus, er hat seine an. Venus und Mars, würde ich sagen. Und ich bin die Erde, obwohl sie es noch nicht gemerkt haben.
    Wenn ich ein kleines Büschel Haare beisammenhabe, spüle ich meistens ein paar auf dem Klo herunter, und den Rest hebe ich in einem Glas auf. Ich weiß, das ist gefährlich, weil jeder, der die Haare findet, eine Puppe aus mir machen könnte, und dann wäre ich für immer in seiner Gewalt. Wenn es ihnen einfiele, die Puppe zu verbrennen, wäre ich tot, ich würde verschwinden. Unendlichkeit.
    «Was machst du da?», sagt Ma. «Hör auf, dich zu rupfen wie ein Huhn.» Sie schlägt die Beine übereinander. «Hast du denn nichts zu lesen?»
    Schon wieder Bücher. Ich könnte schreien. Ich meine, ich lese ja ganz gern, aber ich will mein Leben nicht damit verbringen. «Ich habe nur nachgedacht», sage ich.
    Sie sagt, ich mache sie nervös, wenn ich sie so anstarre, warum ich nicht ins Bett ginge.
    Ma war einmal eine schöne Frau, als ich sie noch nicht kannte. Sie hat Bilder, zum Beweis. Eine Schönheit ohnegleichen, sagt meinPa. Jetzt sieht sie wie verweint aus, aber das kommt nur vom Lesen, und vom Schreiben natürlich auch. Die ganze Zeit Hefte korrigieren und Sachen ins Notizbuch kritzeln. Hätte sie geweint, wüsste ich nichts davon, und ich bin keine, die peinliche Fragen stellt. Ich würde es ihr nicht vorhalten, wenn sie weinen müsste. Sie hat Gründe genug.
    «Was schreibst du da?», habe ich sie einmal gefragt. «Den großen Roman», sagte sie. Ich wusste nicht, dass sie nur Spaß machte. Lange habe ich geglaubt, sie schreibe vielleicht wirklich einen großen Roman, und mich gefragt, welche Rolle ich wohl darin spielte.
    «Geh nach oben», sagt sie. «Deine Haare haben es mal wieder nötig, wann hast du sie das letzte Mal gewaschen?»
    Sie liebt es, mich bloßzustellen vor meinem schönen Pa, der immer noch gut aussieht, wer weiß, wie er das geschafft hat. Ihm ist es egal, ob mein Haar speckig ist, aber trotzdem, vor jemandem wie ihm mag man nicht als Fettkloß hingestellt werden. Immer geschniegelt, das ist er, wie eine Katze.
    «Ich hab meine Haare gestern gewaschen», sage ich.
    Ma dreht sich zu mir um und macht ihre komischen schmalen Augen, was bedeuten soll, du bist eine dicke fette Lügnerin, Mathilda.
    «Gute Nacht, Pa», sage ich und renne die Treppe hinauf.
    «Gute Nacht», sagt er, «träum was Süßes.» Sein üblicher Spruch, aber doch schön zu hören. Wenigstens etwas.
    «Und wasch dir die Haare», leiert Mas Stimme hinterher und folgt mir wie ein Rattenschwanz nach oben.
    Ma ist seltsam, entweder schweigt sie ganz, oder sie muss das letzte Wort haben. Ich weiß nie, welche Ma ich zu erwarten habe, und kann mich nicht entscheiden, welche schlimmer ist. In letzterZeit war es meistens die schweigende. Morgen mache ich wieder einen Teller kaputt. Das ist schon eingeplant.

    In meinem Zimmer schaue ich als Erstes in den Spiegel.

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