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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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endlich in Hs E-Mail. Aber dann wurde mir meine Freude gleich wieder vermiest. Innen war gähnende Leere.
Keine neuen Nachrichten
, sagte der Computer. Ich fing fast an zu schreien.
    Es gab nicht einmal alte Nachrichten. Es war zu lange her, alles verschwunden. Bei mir schlug es buchstäblich dreizehn. Ich fragte mich, warum Gott eine Tür aufschloss, um mir nur Leere zu zeigen. Mir kam der Verdacht, womöglich stecke er mit der Unendlichkeit unter einer Decke.
    Anna sagt, ich müsse Gott lieben, egal was da komme. Du darfst nicht an ihm zweifeln, sagt sie. Und ehrlich gesagt, seit dem Durchbruch in Hs Mailraum fühlte ich mich dem Himmel etwas näher. Je mehr ich darüber nachdachte, umso unwichtiger erschien mir die Leere. Außerdem war ja verständlich, dass niemand ihr schrieb. Alle wussten, dass sie tot war.
    Aber dann dachte ich, was, wenn ich sie eines Besseren belehre?Was, wenn ich jemandem von Hs E-Mail eine Nachricht schicke? Vielleicht sind die Toten auf die Hilfe der Lebenden angewiesen. Vielleicht erscheinen Geister nicht einfach, vielleicht muss man sie erst erfinden. Und wenn sie einmal geboren sind, können sie machen, was sie wollen.
    Mein erster Gedanke war, schick eine Nachricht an einen von Hs Verflossenen. Aber dann dachte ich nein, schick eine an Ma. Mein Herz kam ins Stocken, als mir das einfiel. Eine glänzende Idee, wenn man es recht bedenkt. Als ich schlafen ging, fühlte ich mich wie ein Terrorist. Aber ich würde keine Menschen töten, ich würde sie wieder zum Leben erwecken. Das ist ein Terror ganz anderer Art. Es ist der Terror Gottes.

Sechzehn
    In der Schule hat Mrs Veasey Schweigeminuten angeordnet. Jeden Tag um 8:48 Uhr, zur Zeit der Bombenexplosion. Es ist immer ein seltsames Gefühl, mittendrin alles stehen und liegen zu lassen, still zu sein und dann, eine Minute später, geht alles wieder normal weiter. Es ist wie Tauchen, um zu sehen, wie lange die Puste reicht. Wenn wir es tun, warte ich immer darauf, dass etwas passiert. Aber es passiert nichts. Kein Donner oder Blitz, nicht einmal ein blöder Vogel, der durchs Klassenzimmer fliegt. Nie das geringste Zeichen, dass unser Schweigen irgendwie gehört würde. Das ist jedes Mal eine Enttäuschung. Und peinlich dazu. Mrs Veasey steht auf, senkt den Kopf, und alle machen es ihr nach. Eine Schweigeminute dauert ewig. Man könnte einen ganzen Roman in einer Schweigeminute schreiben.
    «Schau nicht auf die Uhr», sagt Mrs Veasey jedes Mal zu irgendwem.
    Manchmal lausche ich dem Ticken und bin so wütend, dass ich mir in die Backentaschen beißen muss.
    Manche Lehrer verlesen lange Listen mit den Namen der Toten. Diese Toten bekommen eine Extrawurst, weil sie in einer nationalen Tragödie gestorben sind. Aber ich wüsste nicht, was sie von den normalen Toten unterscheidet. In der Stille kann ich mich oft kaum beherrschen, nicht laut ihren Namen zu rufen. In der Stille macht es mich rasend, dass niemand an mich, an meine Familie denkt.
    Heute hat Bruce Sellars während der Schweigeminute gekichert. Ich war froh darüber. Als er kicherte, taten es auch ein paar andere.Es war, als ginge der Teufel im Klassenzimmer um. Mrs Veasey bekam einen puterroten Kopf und richtete ihren Finger wie eine Pistole auf Bruce Sellars, ohne ihr Schweigen zu brechen. Bruce hörte auf zu kichern, aber als die Minute um war, explodierte Mrs Veasey. Sie zitterte praktisch am ganzen Leib. Ich fragte mich, ob sie wohl jemanden in dem zerbombten Gebäude gekannt hatte. Sie schrie gute fünf Minuten lang, kam von dem Respekt vor den Toten und der Nation gar nicht wieder runter. Danach ging es mit Mathe weiter, aber so gut wie unverständlich. Mrs Veasey wusste selbst nicht mehr, was für einen verdammten Unsinn sie da redete. Sie wiederholte sich am laufenden Band und machte mindestens drei Rechenfehler. Ich hätte sie beinahe korrigiert, aber dann dachte ich, halt den Mund, Mathilda, lass die arme Frau in Ruhe.
    In der Mittagspause sah ich Kevin draußen auf dem Rasen. Ich fragte ihn, ob in seiner Klasse auch Schweigeminuten gemacht würden, und er sagte Ja. Heute hätten zwei Mädchen angefangen zu weinen und nicht mehr aufhören können. Ich sagte ihm, das Gleiche sei bei uns passiert. Ich sei eine von denen, die geweint hätten.
    «Schrecklich», sagte ich.
    «Gemein», sagte er. Genau das Wort!
    Kevins Haar war immer noch blau, immer noch schön. Ich schaute mich nach Anna um, konnte sie aber nicht entdecken. Ich wollte die beiden nebeneinander sehen, Seite an

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