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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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und stellte den Fernseher wieder an. «Geh aus dem Weg, Kleines», sagte er. «Ich weiß, es ist unerträglich.»
    Ich behielt Ma fest im Blick. Ihr standen immer noch Tränen in den Augen, aber unmöglich zu erkennen, welche für das Gebäude und welche für Helene waren.
    «Geh und zieh dich um», sagte sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
    Ich stand da. Ich rührte mich nicht. Ich sah, wie Ma zitterte.
    «Nein», sagte ich.
    Ma erhob sich von der Couch und kam zu mir herüber. Es sah aus, als brauche sie Krücken.
    «Was bildest du dir ein, was du da machst?», sagt sie. Sie packt mich so heftig bei den Schultern, dass ich es mit der Angst bekomme.
    «Glaubst du etwa, das sei komisch?»
    «Michele», sagt Pa und versucht, sie von mir wegzuziehen.
    Aber Ma ist stärker, sie schüttelt ihn ab.
    Dann sind Ma und ich allein, Auge in Auge, wie die beiden letzten Menschen auf der Welt. Ich sehe es kommen, als hätten Ma und ich vor langer Zeit eine Wette abgeschlossen. Ihre Hand holt aus und knallt mir eine. Jemand anderes spürt den Schmerz.
    Pa hat keinen Anteil daran, und er weiß es. Es ist nur Ma.
    «
Geh und zieh dich um
», zischt ihr Mund wie eine Schlange.
    Plötzlich ist Pa zwischen uns, und Ma lässt sich von ihm zurCouch hinüberführen. Er hilft ihr, damit sie nicht fällt. Offensichtlich ist Ma seine Sorge Nummer eins.
    Und jetzt ist sie diejenige, die sich tot stellt. Sie schlägt die Augen nicht mehr auf. Pa guckt mich an, als hätte ich ihm sein blödes Herz gebrochen. Er schüttelt den Kopf.
    Tut mir leid, möchte ich ihm sagen. Als ich an ihm vorbeigehe, fasst er mich nicht an.
    «Hunderte von Toten», sagt der Fernseher.
    Pa sinkt neben Ma auf die Couch. Ich bin hinter ihnen, aber ich gehe nicht. Ich stehe in der Türöffnung und beobachte sie. Ma in ihrer Unterwäsche, Pa in Shorts und ohne Hemd. Im Fernsehen läuft immer noch der Rauch- und Trümmerfilm, aber ich schaue nicht hin. Ich schaue auf Mas Rücken, auf die tanzenden Sommersprossen, wie Keime unter einem Mikroskop. Pa legt seinen Arm um ihre Schultern, als wäre er ihr Schulfreund. Sein Haar ist nicht einmal gekämmt, es steht in alle Richtungen ab. Ich liebe sie nicht. Beide nicht. Nein.
    Ich stehe hinter ihnen wie ein Geist.
    Ihre Körper senken und heben sich wie von Lachen geschüttelt. Pas Hand streichelt Mas wunderhübschen Nacken. Sie sitzen da und betrachten das Ende der Welt wie ein Liebespaar im Autokino. In Unterwäsche, als hätten sie gerade miteinander geschlafen.
    Ein schöner gemeiner Gedanke geht mir durch den Kopf: Ich sei noch gar nicht gezeugt. Ma und Pa seien jung, und eben hätten sie beim Sex Helene erfunden.
    Ihr werdet alle sterben.
    Nein nein nein, sage ich, als handelte ich einen Pakt mit jemandem aus. Lasst mich wieder schlafen gehen, sage ich. Regelrecht bettelnd. Lasst mich schlafen, und ich verspreche,
ich verspreche
, wenn ich aufwache, erinnere ich mich an nichts.

Teil Zwei

Vierzehn
    Unser Land befindet sich im Krieg, sagt der Präsident. Er schürzt die Lippen. Der Feind ist unsichtbar, sagt er. Das ergibt keinen Sinn, aber Angst macht es trotzdem. Es fällt nicht schwer, sich alles in Flammen vorzustellen, sogar sein eigenes Haus. Im Fernsehen habe ich einmal gesehen, wie eine Frau einen Haufen zersplitterter Bretter nach ihren Habseligkeiten durchwühlte. Es war kein Krieg, sondern ein Tornado, aber das Gefühl war das gleiche. Außer dem Bretterhaufen war nichts von ihrem Haus geblieben. Ihr schmutziges Kleid flatterte im Wind, es war wie der Tod der Pioniere. Wo soll ich leben?, sagte sie in einem fort. Mindestens zehn Mal, wie betrunken. Schließlich fand sie ein paar Teller, aber alle in Scherben. Nach einem Krieg ist es manchmal noch schlimmer. Tausende umherirrender Menschen auf der Suche nach Wasser. Manchmal passiert es im Winter, aber was hilft’s? Im Grunde ist so ein Haus ein ganz schön wackeliges Ding.
    Manchmal denke ich an Eyad aus unserer Klasse, ob er einer von denen ist. Ein Terrorist, meine ich. Ich weiß, er ist gar keiner, aber trotzdem stelle ich es mir manchmal vor. Vorige Woche ist Eyads Mutter beim Einkaufen von jemandem geschubst worden. Zu Boden gestoßen. Ich begreife nicht, warum sie sich nicht einfach wie ein normaler Mensch anzieht und das mit der Terroristenkluft bleiben lässt. Solche Leute sollten sich doch lieber anpassen. Warum Ärger suchen? Eyad verhält sich meistens unauffällig, was wohl das Beste ist, glaube ich. Er sieht nicht so aus, als wollte er

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