Mathilda Savitch - Roman
das in der Küche ihr wirklicher Körper war, es schien mir etwas anderes zu sein. Eher eine Vorstellung von ihr. Ihr Gesicht war weiß. Vielleicht war Schnee darauf gefallen.
Ihr Haar ist zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie sieht fast wie ein Mädchen aus.
Wenn Helene sechsundzwanzig ist, bin ich sechsundvierzig.
Wie alt muss sie jetzt sein? In meinem Kopf dröhnt es, ich kriege es nicht raus. Sie raucht und raucht und ichfrage mich, warum sie mich nicht sieht. Wartet sie darauf, dass ich ihr einen Apfel gebe? Wenn sie nicht bald guckt, bin ich ein Schneemann. Oder ich bin weg. Wie lange werde ich schon noch in diesem Haus leben? Fünf Jahre vielleicht. Höchstens fünf Jahre. Das ist keine wirklich lange Zeit.
Ma
.
Ich sage das Wort fast gar nicht, aber wegen der Kälte kommt Rauch aus meinem Mund. Ma blickt auf, und auch aus ihrem Mund kommt Rauch. Mit der Scheibe zwischen uns ist es wie vor einem Spiegel. Anblicken, was wir sein werden, was wir waren. Ma sieht das eine und ich sehe etwas anderes. Der weiße Rauch hängt vor unseren Gesichtern, dann löst er sich auf.
Mas Hand hebt sich langsam. Das ist der einzige Teil von ihr, der sich bewegt. Als ich reingehe, halte ich mich erst auf Abstand. Ich frage sie nicht, wo sie gewesen ist, und sie fragt mich auch nicht. Ich sage nichts, weil ich nicht die falschen Sachen sagen will, sodass alles wieder von vorn anfängt. Hat sie die ganze Nacht auf mich gewartet?, frage ich mich. Die ganze Zeit, seit sie den Zug am Telefon gehört hat? Ist sie darum wieder nach Hause gekommen?
Ich sage nicht, es tut mir leid. Ich knie vor ihr nieder und stecke meinen Kopf zwischen ihre Beine, ganz nahe bei ihren Intimitäten. Es ist schrecklich gemein, so etwas zu tun, aber ich kann mir nicht helfen. Ma fasst mich nicht an und sie schubst mich nicht weg. Als ich zu ihr aufblicke, weint sie. Es war alles andere als Heulen und Klagen. Aber wenn man es sich genauer überlegt, ist Heulen und Klagen nicht wirklich ihr Stil. Stattdessen sind es nur ein paar Tränen, ein paar Diamanten, die über ihr Gesicht rollen. Jemand sollte sie einpacken, dachte ich. Sie in ein kleines blaues Kästchen tun, wie das, in dem ihr Verlobungsring lag.
Ich fühlte mich wieder wie Houdinis Assistentin. Vielleicht ist sie diejenige, wegen der ich hergekommen bin, um sie zu retten.Vielleicht ist das der Grund, warum sie mich an diesen Ort geschickt haben. Und was kümmert es mich, ob sie mir ihre Geheimnisse erzählt. Ich habe sicher nicht vor, ihr meine zu erzählen. Über H und Louis und das Baby. Ich behalte das Baby bei mir.
Für mich.
Jeder hat zwei Leben. Eines unter Menschen und dann sein geheimes Leben. Sein Fischleben. Ich fragte mich, ob Pa oben war, ob er schlief und von den Toten träumte.
Ich drücke meinen Kopf in Mas Bauch. Und dann, endlich, streicht sie mir übers Haar. Wenn sie stirbt, werde ich da sein. Ich habe schon alles geplant. Ich werde am Kopfende ihres Bettes sein. Wo ist dein Vater, wird sie fragen. Aber er wird schon fort sein. Es sind nur wir beide. Ich tätschele ihr den Arm und halte ihr ein Glas Wasser an die Lippen, aber sie kann es nicht trinken. Sie wird mir ins Gesicht sehen.
Wer bist du?, wird ihre große Frage sein.
Ma, ich bin’s, werde ich sagen. Deine Tochter. Ich werde keinen Namen nennen. Dann kann sie selbst entscheiden. Oder sie kann am Ende uns beide haben, wenn sie will.
Ich stehe auf, und Ma guckt mich an und nickt. Ich nicke zurück. Wir sind uns einig. Nur über was, weiß ich nicht.
Was immer du willst, Ma, meine Antwort ist ja. Ja, Ma, bis zum Ende.
Der Baum hat mir gesagt, ich solle nicht über solche Sachen nachdenken. Ich solle nicht so viel an das Ende denken, oder an den Tod meiner Mutter und meines Vaters, oder daran, dass ich nicht genug Luft zum Atmen bekäme. Finstere Gedanken nannte er das. Aber finstere Gedanken könnten ihn in den Hintern beißen, und er würde sie nicht erkennen. Er ist ein alter Mann, er ist groß geworden, als die Welt noch aus Weihnachtspute und Mondscheinspaziergängen bestand. Jetzt ist eine andere Zeit. Er kann seine Kindheitnicht mit meiner vergleichen. Ich habe viele Sachen gesehen. Wir alle haben sie gesehen. Kevin und Anna und ich und all die anderen, die in der Zukunft stecken. Wir sind anders. Wir sind nicht ihr.
Aber wacht über mich, ja? Das ist meine einzige Bitte. Passt auf mich auf.
Denn niemand weiß, was kommen wird. Nicht einmal sie. Die Zukunft ist das größte aller Geheimnisse, und
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