Matilda - das Mädchen aus dem Haus ohne Fenster
Bruders, der ist noch da. Gott sei Dank … Andererseits: Zigeuner stehlen vielleicht keine großen Brüder, sondern nur kleine Schwestern. Vielleicht haben sie mich in der Nacht nur übersehen und wenn sie wach werden – dann gute Nacht, Marie, dann bin ich geliefert.
Mein Bruder liegt in seinem Bett und verschläft wieder mal das Beste. Jetzt könnte er mich gefälligst mal beschützen. Aber der hat ja die Ruhe weg.
Ich nicht. Ich habe Angst. Ich will zu meiner Mama! Schreien traue ich mich aber nicht. Zu gefährlich. Was ist denn, wenn die alle wach werden? Ich schleiche aus dem Zimmer in den Flur. Es ist unglaublich, dort ist alles genauso. Überall schnarchende Zigeuner. Ungelogen!
»Mama …?!« Ich rufe nach ihr. Ganz, ganz leise. Keine Antwort. »Hallooooo«, rufe ich noch leiser und kriege wieder keine Antwort. Ich bin mir nicht sicher, ob ich meinen Bruder allein lassen kann. Dass Zigeuner keine großen Brüder stehlen, ist nicht bewiesen, glaube ich. Was ist, wenn doch? Er hat schließlich auch seine guten Seiten, auch wenn mir im Moment gerade keine einfällt.
So stehe ich im Flur und weiß einfach nicht weiter.
Auf der einen Seite mein schlafender Bruder. Ahnungslos. Ganz allein in unserem Kinderzimmer mit einer Horde wilder Kerle. Auf der anderen Seite die Schlafzimmertür, meine Rettung mit Mama und Papa dahinter. Und mittendrin ich, Matilda. Barfuß in diesem Albtraum. Ich weiß einfach nicht weiter.
Was soll ich nur machen?
Gerade denke ich, es wird das Beste sein, sich doch erst einmal ins Schlafzimmer zu retten und Mama und Papa zu wecken. Dann wird man schon sehen. Da raschelt plötzlich etwas unter mir.
Oh Gottogottogottogott. Ein Zigeuner bewegt sich.
Oh Gottogottogott. Er wird wach.
Ich erstarre, ich kann mich vor Angst kaum rühren. Er öffnet die Augen und blinzelt mir entgegen. Seine Augen sind ganz braun. Wie Schokolade. Er lächelt.
Das ist zu viel! Das ist einfach zu viel für mich. Ich habe ja noch nicht einmal gefrühstückt.
Ich schreie wie am Spieß. Ich schreie so lange, bis alle wach sind. Ich schreie, bis Mama kommt und mich in den Arm nimmt und nicht mehr loslässt und sie mir alles ganz genau erklärt: dass diese vielen Zigeuner das Konzert gegeben haben, bei dem sie gestern Abend waren, und dass mit dem Hotel von denen was schiefgegangen ist und die ganz berühmt sind und schrecklich nett und dass das mit dem »Wäsche-und-kleine-Kinder-stehlen« alles nur Vorurteile sind. Dann erst höre ich langsam mit Schreien wieder auf. Und beruhige mich endlich.
»Der soll sofort aus meiner Hängematte raus«, schniefe ich. »Sofort!«
Da lacht Mama. Und mir geht es jetzt auch schon viel besser.
Wir haben dann gefrühstückt. Alle zusammen. Die Horde, meine Familie und ich. Und weil wir so viele waren, haben wirdas im Wohnzimmer gemacht. Da essen wir sonst nur, wenn der Opa Peter 50 wird. Sonst nie.
Der eine Zigeuner, der mit den Schokoladenaugen, hat am Fenster gestanden und auf seiner Geige gespielt. Eine Melodie, die ich noch nie gehört habe. Die hat glücklich und traurig gemacht. Beides gleichzeitig. Da hat der Papa Mamas Hand genommen und nicht mehr losgelassen. Und sie hat ein bisschen so geguckt wie Sahnegesicht …
PS: Ein Vorurteil ist, wenn man jemanden gar nicht kennt und ihn trotzdem blöde findet.
Marmelade im Schuh
Wenn ich vom Spielen nach Hause komme, habe ich Hunger. Meistens bekomme ich dann ein Marmeladenbrot, denn meine Omi hat einen großen Garten und schickt uns jeden Spätsommer Eingemachtes.
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich glaube, kein Mensch mag jahrelang immer das Gleiche auf dem Brot essen.
Leider glauben Erwachsene wohl, Kinder mögen das.
Eines Tages jedenfalls, ich komme von einem anstrengenden Tag nach Hause – habe Drachen getötet, den Prinzen vom Bielstein geheiratet, eine Bude gebaut und die Klospülung erfunden –, da setzt mir meine Mama wieder einmal ein Marmeladenbrot vor die Nase und verlässt die Küche.
Da sitze ich nun ganz allein vor diesem unlösbaren Problem! Die Stulle auf der einen Seite und mein Magen, der in den Kniekehlen hängt, auf der anderen. Die beiden wollen einfach nicht zueinanderkommen.
Wenn ich sage, ich mag das Brot nicht, ist Omi traurig, und das will ich auf keinen Fall. Meine Omi liebe ich schließlich, und von ihrem selbst gemachten Eis aus Holunderbeersaft kann ich seltsamerweise bis heute nicht genug bekommen.
Wenn ich das Marmeladenbrot wortlos liegen lasse, dann liegt es beim
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