Matilda - das Mädchen aus dem Haus ohne Fenster
Ich schwimme auf den Beckenrand zu. Ich überlege schon, wem ich das als Erstes erzählen werde. Der Bine? Nee, die kann ja noch nicht schwimmen, und dann mach ich sie traurig und das möchte ich auf keinen Fall.
Auch wenn sie diese Sache mit dem Geschenk gemacht hat … Sagt, dass sie Geburtstag hat, lädt mich ein, Mama kauft ein Geschenk, ich geh ganz fein gemacht dahin, in der ollen weißen Strumpfhose, die so schrecklich kratzt, und was ist? Nichts ist. Keine Sau da. Als dann endlich Sabines Mama um die Ecke kommt und fragt, was los ist, wird Bine plötzlich ganz rot. »Da muss die Matilda wohl was missverstanden haben …«
Von wegen. Ganz klar und deutlich hat sie gesagt, dass sie Geburtstag hat. Ganz klar und deutlich! Na ja, die Süßigkeiten haben wir uns dann geteilt und die »Der Wolf und die sieben Geißlein«-Kassette hören wir jetzt immer abwechselnd. Mama hat zum Glück nichts davon gemerkt. Das hätte die mir nie im Leben geglaubt, dass ich davon nichts gewusst habe … Apropos Mama, ich denke, ich erzähle ihr zuerst, dass ich jetzt schwimmen kann. Dann muss sie sich nicht mehr solche Sorgen machen. Mama macht sich immer solche Sorgen.
Ich schwimme also auf den Beckenrand zu und denke so dies und das, und dann denke ich – nur ganz kurz –, was ist, wenn ich mich irre?
Was ist, wenn ich gar nicht schwimmen kann?
Und das reicht schon.
Ganz kurz vorm Rand, ich kann ihn fast schon greifen, da kann ich mir plötzlich nicht mehr glauben. Da glaube ich nicht mehr, dass ich schwimmen kann. Und dann kann ich’s auch nicht mehr.
Es ist wie verhext. Ich tauche unter. Ich schnappe nach Luft, aber ich kriege nur wenig. Viel zu wenig.
Ganz verschwommen sehe ich durch das Wasser hindurch Menschenbeine. Menschen, die am Rand stehen. Nur schemenhaft. Aber sie bemerken mich nicht.
Ich will noch rufen, ich hebe noch den Arm und greife nach den kalten Kacheln, aber ich rutsche ab. Bis mir schwarz vor den Augen wird.
Ich ertrinke. Jetzt müssten ja eigentlich die Engel kommen und der Chor und der Herrgott und der Opa Reinhold. Der ist auch schon tot. Dem will ich dann gleich mal die Meinungsagen. Das ist der Papa von meiner Mama, und die hat er immer Graupensuppe essen lassen, und meine Mama, die mochte keine Graupensuppe. Kann man ja auch verstehen, und dann hat sie die natürlich wieder ausgekotzt … Also »gebrochen« soll man ja sagen. Gebrochen hat sie! Und dann musste sie das alles wieder aufessen. Echt! Ist nicht gelogen. So war das damals.
Apropos »gebrochen«: Mir ist irgendwie schlecht. Hätte ich nicht gedacht, dass einem im Himmel auch schlecht werden kann. Es ist auch komisch, dass einem im Himmel ein Bademeister auf dem Bauch rumturnt.
Jedenfalls muss ich jetzt auch brechen, und ich habe noch nie und niemals erlebt, dass mein Erbrechen Grund zu so einer riesengroßen Freude allerseits ist.
Noch nie und niemals!
Aber jetzt ist es so! Alle jubeln, als wäre ich der Goldesel. Nur andersrum.
Das Leben ist wirklich schön!
Um es kurz zu machen: Sahnegesicht ist nicht meine beste Freundin geworden. Ich bin nicht ertrunken. Ich wurde gerettet. Ich kann jetzt auch schwimmen, aber was ich viel, viel lieber mag, ist: Turmspringen.
Die Zigeuner kommen
Was ist ein Konzert? Ich liege in meinem Bett und habe keine Ahnung, aber es gefällt mir sehr, dass Mama sich so fein gemacht hat und dass sie so gut duftet. Das ist Parfüm, und das wird aus Blumen gemacht. Morgen früh werde ich das auch mal versuchen. Normalerweise esse ich die Gänseblümchen ja. Also, nicht den Stiel, der schmeckt nicht so gut, aber das Gelbe in der Mitte – vorzüglich.
Sie sieht so glücklich aus, meine Mama. Und so schön. Wie die Königin von Dänemark. Nur schöner. Papa hat das auch gemerkt und hält ihr die Tür auf. Das macht er sonst nicht. Auch nicht, wenn Mama müde ist und einkaufen war und ihr die Tüte geplatzt ist und sie so ’ne Falte auf der Stirn kriegt.
»Ein Kuss auf die Stirn, ein Kuss auf die Nase, ein Kuss auf den Mu-mu-mu-mund.« So macht Mama das jeden Abend. Erst ist mein Bruder dran, dann ich.
Mama geht aus dem Zimmer, das Licht geht aus, die Haustür fällt ins Schloss, und im Weggehen höre ich Papa noch etwas zu Mama sagen. Etwas von Zigeunern. Zigeunermusik?! Zigeuner – sind das nicht diese Leute, die kleine Kinder klauen und auch die Wäsche von der Leine und überhaupt alles, was nicht niet- und nagelfest ist?! Sind das nicht ganz wilde Gesellen, diese Zigeuner?!
Ich habe mich
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