Matrjoschka-Jagd
Taschentuch hervor und wischte sich damit über die Stirn. »Machen Sie doch einfach Ihre Arbeit.« Er wirkte plötzlich müde. »Ich habe ein Attest, ich darf mich nicht anstrengen. Der Chef weiß das.«
Nore Brand schüttelte ungläubig den Kopf. »Ein Arztzeugnis?« Wie praktisch. Auf eine solche Idee war sie noch nie gekommen. »Sie brauchen auch gar keinen Finger zu rühren in dieser Angelegenheit.« Sie atmete aus und zählte dabei langsam auf drei. »Was wissen Sie?«
Bucher verzog sein Gesicht. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich überhaupt nichts weiß. Da war nur dieser Anruf gestern Morgen und was diese Frau erzählt hat.«
Nore Brand schüttelte den Kopf. »Irgendjemand ruft Sie an, erzählt Ihnen irgendetwas und Sie packt die Angst?« Sie machte einen raschen Schritt auf seinen Schreibtisch zu und schlug mit der Faust mitten auf den Tisch. »Solange Sie hier oben sind, haben Sie uns noch nie gebraucht. Warum gerade jetzt?«
Bucher saß bewegungslos da, den kleinen, runden Mund leicht geöffnet.
Nore Brand versuchte sich wieder zu fassen. »Gut. Sie wissen also nichts, aber vielleicht weiß der Chef inzwischen mehr.« Sie packte den Hörer und wählte.
Mit einem Ruck riss Bucher den Hörer an sich. »Nein, nicht«, keuchte er, »nein!« Er hielt den Hörer vor seiner Brust umklammert. »Wenn ich mich da nicht heraushalte, dann wird mein Leben zur Hölle.«
Er rang nach Atem. »Ich habe von Anfang an nichts wissen wollen von der ganzen Geschichte und dann ruft mich diese Ausländerin an. Ich habe nur meine Pflicht getan.«
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Lassen Sie mich endlich in Ruhe. Sie haben ja keine Ahnung. Sie wissen nicht, wie das ist, hier oben allein zu sein, auf diesem Posten! Gehen Sie doch ins Dorf und fragen Sie. Irgendjemand. Aber lassen Sie mich einfach in Ruhe.« Er schaute sie aus kleinen roten Augen an. Ein verschrecktes Kaninchen, zu müde, um noch Sprünge zu machen.
Nore Brand richtete sich wieder auf.
Vielleicht hatte sie soeben eine Chance gehabt, vielleicht auch nicht. Einen wie Bucher durfte man nicht überfahren, sie hätte sanfter vorgehen müssen.
Er stand mühsam auf. »Wahrscheinlich sehe ich einfach Gespenster.« Er schaute sie kurz an. »Meine Frau sagt das. Ich glaube, sie hat recht. Meine Nerven lassen mich ab und zu im Stich. Es war ein Fehler. Ich war gestern Morgen sehr müde. Ich hatte eine schlechte Nacht«, er suchte nach einer Erklärung, »immer dieser Föhn. Es muss wohl so sein. Ich habe die Lage falsch eingeschätzt und dabei kurz die Übersicht verloren. Wegen der Nerven haben sie mich damals hierher geschickt. ›Die Bergluft wird Ihnen guttun‹, hat der Arzt gemeint.« Er lachte verächtlich. »Bergluft«, wiederholte er bitter.
Er schaute aus dem Fenster. »Wenn man die Dinge genau betrachtet, kommt plötzlich viel Mist zum Vorschein. In meinem Alter weiß man, dass es nicht viel bringt, im Dreck zu wühlen. Dreck bleibt Dreck. Wenn man jung ist, glaubt man die Welt verändern zu können.« Er schnaubte verächtlich. »Gehen Sie doch einfach wieder zurück. Das ist nichts für Sie. Sagen Sie dem Chef, der Bucher hätte Gespenster gesehen.«
»Mist? Was meinen Sie damit?«
»Begreifen Sie doch endlich, heute denke ich anders als gestern. Sie können hier nichts ausrichten, weil es nichts auszurichten gibt.« Langsam drehte er den Kopf zu ihr. »Frau Brand, hat man Sie etwa auch wegen der erfrischenden Bergluft hierher geschickt?«
»Bucher, Sie wissen offenbar nicht mehr, auf welcher Seite Sie stehen.«
»Doch«, schrie er unvermittelt auf, »ich weiß genau, wo ich stehe. Ich will meine Ruhe und die habe ich nur, wenn Sie auf der Stelle verschwinden, Sie und Ihr lächerlicher Assistent.«
Sie ging langsam zur Tür, sie griff nach der Klinke, als sie sich plötzlich zurückdrehte. »Heute Morgen sagten Sie, dass Sie sich nicht ›einmischen‹ wollen. Das ist ein seltsames Wort für einen Dorfpolizisten, wenn er über einen Fall spricht, den er aufklären sollte.«
»Das habe ich nie gesagt«, sagte Bucher erschöpft, »nie habe ich dieses Wort gebraucht, nie.«
»Doch, genau dieses Wort haben Sie gebraucht.« Sie wartete, doch Bucher sagte nichts mehr.
Nore Brand atmete auf, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Sie ging zum Wagen zurück; Nino Zoppas langer Arm hing aus dem Wagenfenster, mit den Fingern schnippte er einen verworrenen Takt und sang, nein, er sang nicht, er jaulte ein paar Töne, die zu einer
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