Matrjoschka-Jagd
die Theke gleiten, über die Gläser und Flaschen. »Für uns ist es vielleicht auch zu spät.«
Als sie die Kommissarin anschaute, war ihr Gesicht fahl und leer. »Seien Sie mir ja nicht dankbar für meine Ehrlichkeit. Wenn es uns heute gut ginge, so wie nicht wenigen im Dorf, würde ich bestimmt nicht mit Ihnen sprechen. Ich würde Sie rauswerfen, damit Sie mir mein Glück nicht zerstören.«
Nore Brand schwieg.
»Übrigens. Diese Ausländerin vom Belvedere, die heute Morgen verunglückt ist, die hatte eine Affäre mit der Frau des Direktors.«
Nore Brand hob ihr Gesicht. »Wissen Sie das sicher?«
Die Wirtin schaute Nore Brand über den Glasrand hinweg an. »Ja. Dass so ein Huhn auch noch lesbisch ist. Oder bi oder was. Das habe ich fast nicht glauben wollen. Elsi Klopfenstein wusste davon. Sie wohnt hinter uns. Fünf Schritte die Gasse hinauf.« Die Wirtin lachte heiser. »Sie hat eben noch nie zwei Frauen gesehen, die sich richtig küssen, leidenschaftlich eben. Sie meinte tatsächlich, dass solche Sachen nur im Fernsehen vorkommen.«
»Haben Sie Kontakt mit Frau Klopfenstein?«
»Ja. Ab und zu. Sie fährt jeden Tag hier vorbei. Manchmal hält sie an für einen kleinen Schwatz.«
»Wann hat sie von den beiden Frauen erzählt?«
»Das muss im Juli gewesen sein.«
»Ihr Whisky ist wirklich gut.«
Als sie den Gasthof verließ, spürte sie die Augen der Wirtin in ihrem Rücken.
Die Wirtin wusste, wohin Nore Brand ging.
Die Kommissarin musste sich diese Puppe vornehmen. Die Frau des Direktors. Diese Schlange.
Die Wirtin lächelte schadenfroh. Vielleicht war mit diesen beiden seltsamen Vögeln aus der Stadt so etwas wie Gerechtigkeit ins Tal zurückgekommen.
DIE UHR DER MILLIONÄRIN TAUCHT WIEDER AUF
Die graue Wolkendecke hing immer noch dunkel und schwer über der Talmulde, als Nore Brand wieder vor der Eingangstür des Grandhotel Belvedere stand. Links und rechts standen hohe, dünne Tannen wie grüne Wächter, die das Tor zu einem Mausoleum bewachten. Kaum hatte sie die oberste Stufe erreicht, ging – sie war es inzwischen gewohnt – wie von Geisterhand die Glastür auf. Sie eilte durch die Eingangshalle. Der junge Mann am Empfang hob sein Gesicht und grüßte sie freundlich. Er erinnerte sich an ihren Namen. Sie nickte ihm freundlich zu und schämte sich dafür, dass sie den seinen vergessen hatte. Etwas Heldenhaftes war in seinem Namen, das wusste sie noch, nicht viele junge Männer hießen heutzutage so. Als sie vor ihm stand, warf sie einen Blick auf sein Schildchen. Natürlich, Viktor Heller, Viktor, der Sieger.
Sie sah ihre Lateinlehrerin vor sich in ihrem azurblauen Häkelkleid, die Haare prächtig gewellt, wie Doris Day in ihren besten Tagen.
»Können Sie mir sagen, wo ich die Frau des Direktors finde?«
Viktor Heller stand leicht nach vorn gebeugt und lächelte sie an. »Kein Problem. Heute Nachmittag hat sie Therapie. Sie ist nicht immer voll besetzt. Am besten gehen Sie gleich diese Treppe hinunter. An den Türen sind die Namen der Therapeuten angeschrieben.« Er verbeugte sich leicht. Es machte ihm offensichtlich Spaß, den Menschen zu dienen. Kaum hatte Nore Brand sich umgedreht, klingelte das Telefon. Herr Heller meldete sich, seine Stimme war klar wie frisch gegurgelt.
Sie ging die Treppe hinunter. Je tiefer sie stieg, desto stärker roch es nach Desinfektionsmitteln, heilenden Salben und Ölen. Stühle standen in Reihen vor den Therapieräumen; zwei ältere Frauen saßen wartend da, eingewickelt in dicke, weiße Bademäntel, die Füße in Plastiksandalen. Ihre Haare waren feucht, die Gesichter leicht gerötet. Sie kamen aus dem warmen Bad und warteten auf eine entspannende Massage. Sie unterhielten sich über das Essen und das erfreuliche Talent der Barpianistin, die zweifellos aus einem der vielen berühmten Staatsorchester stammte, von denen es in Osteuropa einmal nur so gewimmelt hatte.
Als sie Nore Brand erblickten, verstummten sie und schauten ihr erwartungsvoll entgegen.
»Können Sie mir sagen, wo der Therapieraum ist?«
Die beiden Frauen nickten eifrig und zeigten den Gang hinunter. »Der letzte auf der rechten Seite«, sagten sie im Chor und amüsierten sich köstlich über ihr Duett.
Nore Brand bedankte sich und ging an den beiden vorbei. Sie wusste, dass sie ihr nachschauten. In diesen Kurhäusern schaute man allen Neuen hinterher. Man war gierig nach Gesprächen. Vor allem konnte man nicht genug bekommen von der Schilderung der eigenen Leiden.
»Haben
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