Matto regiert
Sie mich dafür verantwortlich machen, Laduner, daß es auf der Welt unvernünftig zugeht? Glauben Sie mir, auch das Verständnis entgegengesetzter Standpunkte vermag die Gegensätze nicht aufzuheben…‹ Er war klug, mein alter Chef…
Ich sagte Ihnen, es drehe sich alles um den 2. September. Drei Jahre später, auf den Tag, am zweiten September, wird Pieterlen verrückt aus der Strafanstalt in die Heil- und Pflegeanstalt jenes Kantons eingeliefert, in welchem er verurteilt worden war. Er hatte mir gesagt, noch vor der Verhandlung, er hoffe mit drei Jahren davonzukommen, und ich hoffte es auch. Mein Gutachten hatte auf Totschlag im Affekt gelautet… Und drei Jahre später… Ein anderer Arzt hat die Aufnahme gemacht. Aber ich spiele trotzdem noch mit, ich bin der Vormund geworden des Pierre Pieterlen, ja, ich war der Dr. L., dem er von R. geschrieben hatte…«
»Und heute ist auch der zweite September« sagte Studer.
Fünf und drei sind acht und ein Jahr Untersuchungshaft macht genau neun Jahre. Neun Jahre war er eingesperrt.«
Studer saß da, vorgeneigt, die Unterarme auf den Schenkeln. So konnte er Laduner von unten her ins Gesicht blicken, und er war erstaunt: die Maske war nämlich gefallen. Es saß auf dem Stuhle dort ein jugendlich aussehender Mann, mit einem weichen Mund, die Stimme tönte weder nach: ›Das Bataillon hört auf mein Kommando!‹ noch erinnerte sie an den Ton ›Liebes Kind.‹ Das Gesicht war weich, der Mund sanft geschwungen, die Stimme warm…
Und noch ausgeprägter war die Veränderung, als die Türe aufging und der Chaschperli gute Nacht sagen kam. Er gab auch Studer die Hand.
Dann war es wieder still im Zimmer, der Rauch schlängelte sich unter den Rand des Pergamentschirms und quoll dann oben heraus, wie aus einem Kamin.
Laduner sagte:
»Zuerst hat der Pieterlen in der Strafanstalt Schreinereiarbeiten verrichten müssen, er machte Särge in seiner Zelle. Glauben Sie nicht, daß ich erfinde, ich kann Ihnen alles in den Akten zeigen. Als er ein Jahr, ganz allein in der Zelle, Särge angefertigt hatte, durfte er an Militärmäntel die Knöpfe und die Knopflöcher nähen. Zwei Jahre lang. Und dann…«
Laduner suchte in der Aktenmappe nach einem Blatt; er las mit der gleichen weichen Stimme:
»Bericht der Strafanstalt, Nr. 76, Pieterlen… Auffallende Veränderungen in seinem Verhalten: Arbeiten, die er früher ganz schön gemacht hatte, macht er auf einmal nachlässig und unbrauchbar, zum Beispiel Knopflöcher an Mänteln, statt am linken Teil rechts. Bestandteile an Kleidungsstücken mit der deutlich abstechenden Querseite nach außen. Er erklärte auf Reklamationen hin, die Sachen ändern zu wollen, machte aber wieder den gleichen Fehler. Am Abend bettete er unter dem Arbeitstisch und schlief auf diesem Lager…«
Das Blatt raschelte. Laduner zündete eine frische Zigarette am Stummel der ausgerauchten an, stand auf, ging zum Fenster, sah in die Nacht, die schwer und schwül über dem Land lag.
»Er hat sich verkrochen, er hat Knopflöcher falsch genäht… Nach drei Jahren: Das ist zweimal zweiter September… Ich bin nicht gefühlvoll, Studer, glauben Sie mir, aber der Pierre Pieterlen, das ist… das ist… eben, ein Demonstrationsobjekt« und versuchte ein Lachen, das mißlang.
Studer lauschte, lauschte… Der Fall des Patienten Pieterlen interessierte ihn – wenn er ehrlich sein wollte – nicht so sehr, als der Ton, in dem er erzählt wurde.
»Wie lange tragen Sie schon das Kummet, Studer? Zwanzig Jahre? Ja? Nun, bald winkt Ihnen die Pension… Aber in diesen zwanzig Jahren haben Sie viele Akten gelesen, nicht wahr? Viele Berichte verfaßt, nicht wahr? Jetzt werden Sie sich wundern, Studer, und ich weiß, daß Sie sich schon die ganze Zeit gewundert haben, warum ich so offen zu Ihnen bin, warum ich Sie zu mir eingeladen habe… Geben Sie es zu, es ist Ihnen reichlich sonderbar vorgekommen… Aber ich habe Ihre Laufbahn verfolgt, man hat mir von dem Kampfe erzählt, den Sie mit dem Obersten Caplaun ausgefochten haben, und dann habe ich fünf Rapporte von Ihnen gelesen, sie betrafen alle den gleichen Fall. Der Fall tut nichts zur Sache. Aber die Rapporte sind mir aufgefallen, ihr Ton, er war anders als der Ihrer Kollegen. Zwischen die Floskeln der Amtssprache hatte sich etwas eingeschlichen. Es klang, als ob Sie immer versuchen wollten, zu verstehen, und wenn Sie selber verstanden hatten, dann wollten Sie auch, daß der Leser verstehen sollte… Bin ich deutlich?…
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