Matto regiert
Charakteranlage. Er stand schon seit Monaten unter dem Einfluß einer heftigen Gemütsaufregung, die dann schließlich im gegebenen Moment den letzten Ansporn zum Verbrechen gab. Er kann keineswegs als eine Verbrechernatur bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine ausgesprochene, angeborene Charakterabnormität, nämlich um eine schizoide Psychopathie. Es wäre durchaus nicht verwunderlich, wenn später noch eine eigentliche Geisteskrankheit, nämlich eine Schizophrenie, bei ihm ausbräche…«
»Schizophrenie…« murmelte Studer. »Was heißt das?«
Die Worte kamen nur undeutlich, weil er das Kinn in die Hände gestützt hatte, und seine Finger den Mund verdeckten.
»Eigentlich heißt es: Spaltung, Gespaltensein«, sagte Laduner. »Eine geologische Angelegenheit. Sie haben einen Berg, er wirkt ruhig und geschlossen, er ragt aus der Ebene auf, er atmet Wolken und braut Regen, er bedeckt sich mit Gras und sprossenden Bäumen. Und dann kommt ein Erdbeben. Ein Riß geht durch den Berg, ein Abgrund klafft, er ist in zwei Teile zerfallen, er wirkt nicht mehr ruhig, geschlossen, er wirkt grauenhaft; man sieht in sein Inneres, ja, das Innere hat sich nach außen gestülpt… Denken Sie sich eine derartige Katastrophe in der Seele… Und wie der Geologe mit Bestimmtheit von den Ursachen spricht, die einen Berg gespalten haben, so sprechen wir mit Bestimmtheit von den psychischen Mechanismen, die eine Seele gespalten haben. Aber wir sind vorsichtig, lieber Studer, und wenn ich ›wir‹ sage, so denke ich an die paar Leute in unserer Zunft, die nicht meinen, daß mit einigen griechisch-lateinischen Sprachenmésalliancen das Rätsel der menschlichen Psyche gelöst sei…
Der Berg! Studer, denken Sie an den Berg! Sein Inneres ist plötzlich sichtbar… Ich werde Sie morgen ins U führen. Dort werden Sie manches verstehen. Unter anderem auch die merkwürdige Scheu, von der viele Menschen, auch die Gesundesten, befallen werden, sobald sie Geisteskranken gegenüberstehen.
Einer von uns hat einmal gesagt, das komme daher, daß man da buchstäblich bei dem Unbewußten zu Besuche sei… Unbewußt, Sie werden mich wieder fragen, was unbewußt ist. Unbewußt ist alles, was wir nicht an die Oberfläche gelangen lassen, was wir so schleunigst als möglich beiseiteschieben, sobald es nur den Versuch wagt, eine Ohrenspitze zu zeigen… Zeigen Sie mir einen einzigen Menschen, der nie in seinem Leben, sei es als Kind, sei es als Erwachsener, wenigstens in Gedanken einen Mord begangen hat, der nie im Traume getötet hat… Sie werden keinen finden… Glauben Sie, daß es sonst so ungeheuer leicht wäre, Menschen in den Krieg zu jagen? Bringen Sie mir den gütigsten Vater, die besorgteste Mutter, wenn sie ehrlich sind, werden sie beide mir zugeben müssen, daß sie nicht einmal, nein, oft gedacht haben: ›Wie leichter hätt' ich's ohne Kinder!‹ Aber wie wollen Sie Ihr schon vorhandenes Kind wegbringen, es sei denn, Sie brächten es um? Sie sind Vater, Studer, ehrlich, Hand aufs Herz: haben Sie früher nicht oft das Kind als eine Last empfunden, als eine Beschränkung Ihrer Freiheit? Nun?«
Studer grunzte. Es war ein böses Grunzen. Er liebte es nicht, daß man ihm so hart auf die Haut rückte. Natürlich hatte er solche Gedanken gehabt, als seine Tochter noch klein war, und er manchmal in der Nacht nicht schlafen konnte, weil das Kind schrie. Vielleicht hatte er sogar laut geäußert, der Teufel möge das verdammte Gof holen… Aber von einem solchen Ausspruch bis zu einem Kindsmord… Obwohl…
»Gedanken sind zollfrei«, sagte Laduner, und sein Lächeln war traurig. »Solange es Gedanken sind, solange es Wünsche sind und wir den Wünschen nicht nachgeben, ist alles recht und in Ordnung, und die Gesellschaft ist zufrieden…
Es darf einer in Büchern verkünden: ›Das Eigentum ist Diebstahl!‹ Es wird ihm wenig geschehen, wenigstens heutzutage. Aber leben Sie einmal nach dem Ausspruch, dann werden Sie sich selbst verhaften müssen, nicht? Schreiben Sie und verkünden Sie es in allen Zeitungen: ›Es ist ein Irrsinn, heutzutage Kinder auf die Welt zu stellen!‹ und schreiten Sie dann zur Tat. Sie brauchen kein Kind zu töten, nur einen verbotenen Eingriff zu machen. Dann können Sie ein paar Jahre in Thorberg darüber nachdenken, daß Sie irgendeinen Paragraphen übertreten haben. Pieterlen hat eben nicht an den Paragraphen gedacht. Er hat monatelang darüber nachgegrübelt, daß nun ein Kind zur Welt kommen
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