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Matto regiert

Matto regiert

Titel: Matto regiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Auch dort war die Einsamkeit zum Greifen gewesen, die Einsamkeit eines alten Mannes, den seine Kinder verlassen hatten…
    »Die Einsamkeit«, sagte Laduner zum drittenmal. »Sie ist auch da, wenn man Handlanger zu achtzig Rappen Stundenlohn ist, und sie ist genau so quälend, als wenn man besser gestellt ist… Pieterlen stand vor einem Gewissenskonflikt: Soll ich mit achtzig Rappen Stundenlohn ein Kind auf die Welt stellen? Die Leute in gesicherten Stellungen werden Ihnen erwidern: früher hätte er nur dreißig Rappen bekommen, und damals waren die Leute auch zufrieden. Gut und recht! Aber wir leben nicht damals, sondern heute. Es ist nicht unser Fehler, wenn die Ansprüche gewachsen sind… Und Pieterlen taugte nicht zum Handlanger mit achtzig Rappen und großer Familie. Vielleicht taugte er überhaupt nicht zum Familienvater. Wenn er dann meinte, er habe das Recht, sein Kind umzubringen, so ist diese Tat, wenn sie auch schwer verständlich ist und Entsetzen erregt, doch durch die Tatsachen bedingt: und die Tatsachen im gegebenen Falle waren eben der Charakter des Pieterlen, seine aus Büchern gewonnene, verschrobene Weltanschauung, seine Unfähigkeit, sich den Regeln einer Gesellschaft anzupassen und eine weniger tragische Lösung seines Konfliktes zu finden. Nur müssen Sie begreifen, Studer, daß mich das Schicksal dieses Mannes beschäftigt hat. Denn trotz dem schizoiden Charakter, den ich kraft meiner diagnostischen Weisheit feststellen mußte, war Pieterlen ein anständiger Mensch. Und als er verlangte, ich solle sein Vormund werden, habe ich angenommen. Vielleicht auch, weil ich damals einfach nicht begreifen konnte, warum eine Tat, deren Erklärung auf der Hand lag, die, wenn ich mich nicht schwer täuschte, so, wie ich sie mit meinen geringen Geisteskräften erklären konnte, auch den Herren Juristen einleuchten mußte – daß eine solche Tat (Sie erinnern sich, die Frau im Bett, die Lampe mit Papier umhüllt und bis zum Boden gezogen, das Handtuch) – daß eine solche Tat, begangen in einem Zeitabschnitt von ein paar Minuten, gesühnt werden soll mit einer Einsperrung in einer Zelle von zwei Meter auf drei, dauernd zehn Jahre… Ein gewisses Gefühl für Gleichgewicht wehrt sich in mir dagegen. Die Waagschale der Strafe sinkt herab, während die Waagschale, die die Tat trägt, in den Himmel schnellt… Strafe wofür? Daß Pieterlen ein von ihm gezeugtes Kind umgebracht hat, weil er vielleicht Angst vor der Verantwortung hatte? Weil er mehr an sich dachte und an sein Wohlergehen, als an seine Nachkommenschaft? – Und, Studer, gestatten Sie mir die Frage, wenn nun ein Süffel sein Kind so verprügelt, daß es stirbt, dann ist es nicht Mord, vorsätzlich und mit Vorbedacht, sondern Körperverletzung mit tödlichem Ausgang! Nicht wahr? Gefängnis bis zu zwei Jahren oder Korrektionsanstalt… Aber das Kind, das der Süffel totgeprügelt hat, das fühlte schon, das hatte Schmerzen, das hatte Angst, das litt… Wenn man so einen Menschen zehn Jahre oder lebenslänglich hinter Eisengitter sperren würde, ich hätte weiß Gott nichts dagegen, und auch der Einwand, den Sie wahrscheinlich machen werden, der Mann sei ein Opfer seines Charakters und seines Milieus, läßt mich kalt. Wir wollen nicht sentimental sein… Übrigens habe ich mich mit dem Falle Pieterlen abgefunden… Das dürfen Sie mir glauben… Abgefunden, bis heute abend, und da kommt alles wieder heraus…
    Den zweiten Aufnahmestatus haben Sie gelesen… Nun, Pieterlen kam hierher, nach zwei Monaten, weil er als unheilbar in seinen Heimatkanton abgeschoben werden mußte. Er kam und ich sah ihn am Abend auf der Visite. Ich werde die Szene nie vergessen. Er erkannte mich, aber er grüßte mich nicht. Ein gefrorenes Lächeln hatte er um die Lippen, er saß auf einer Bank, im langen Gang des B, damals war der Aufenthaltsraum nicht gebaut, er saß da, starrte vor sich hin, dann stand ich vor ihm, er erhob sich, legte die Hände auf den Rücken und machte mir eine zeremoniöse Verbeugung. Er sah schlecht aus. Am nächsten Tag untersuchte ich ihn. Die Lungen waren leicht angegriffen, nichts Erhebliches. Er sprach während drei Tagen mit niemandem ein Wort. Er saß in seiner Ecke, blätterte in Illustrierten, starrte auf den Boden, und wenn ich auf die Visite kam, stand er auf, um sich, Hände auf dem Rücken, zu verbeugen… Am dritten Tage bekam er Krach mit einem Wärter, er wurde unglaublich massiv. Ich glaube, es war wegen ein Paar Socken, die

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