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Matto regiert

Matto regiert

Titel: Matto regiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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bin ein bescheidener Mann, Studer, und wenn ich bescheiden sage, so ist das ein Zeichen, daß ich es eigentlich gar nicht bin. Aber ich glaube immer noch, daß jeder Schuster bei seinem Leisten bleiben soll. Schließlich, ich bin Arzt, Seelenarzt, wie man uns draußen mit einem ein wenig spöttischen Lächeln nennt, weil wir manchmal ein wenig komisch sind mit unsern Fremdwörtern. Aber das ist ja nebensächlich…
    Laduner stand auf, ganz plötzlich; da er keinen Rock anhatte, hoben sich seine Hände, als er sie in die Seiten stützte, dunkel und braun vom weißen Stoffe des Hemdes ab.
    »Vorbemerkung: Wir haben hier in der Anstalt drei Fälle von chronischem Alkoholismus. Der eine dieser Fälle, ein Mann, vierzigjährig jetzt, hat seine Stelle wegen Trunksucht verloren. Er hat sieben Kinder auf die Welt gestellt, die alle leben, der Staat muß die Kinder und die Frau erhalten, der Staat muß hier für den Mann zahlen. Der zweite Fall: Handlanger, mit den bekannten achtzig Rappen Stundenlohn, hat geheiratet, weil er auch etwas von dem wollte, was wir heutzutage Leben nennen; das heißt: einen Ort, wo er daheim war, eine Frau, die zu ihm gehörte. Mit achtzig Rappen Stundenlohn kann man nicht große Sprünge machen, der Mann war ordentlich, zuerst, die Frau auch. Drei Kinder. Es hat nicht gelangt. Der Mann ist saufen gegangen, die Frau hat gewaschen. Noch zwei Kinder. Am billigsten ist Schnaps. Bätziwasser kostet zwanzig Rappen das Glas. Kann man von dem Mann verlangen, er soll Waadtländer zu fünf Franken die Bouteille trinken? Nein, nicht wahr? Der Mann hat ein Heim gehabt. Die Last ist zu schwer geworden, er hat vergessen wollen… Kann man die Leute zwingen, immer ihr Elend vor Augen zu haben? Ich weiß es nicht. Die Herren vom Fürsorgeamt sind überzeugt davon, denn sie haben ja ihren Lohn… Ich möchte nicht so weit gehen… Aber Bätziwasser ist nicht gesund, es kann einmal ein wunderbares Alkoholdelirium geben, und das hat es auch gegeben. Resultat? Der Mann ist hier, die Frau bekommt eine kleine Unterstützung von der Gemeinde, die Kinder sind verkostgeldet… Und der dritte Fall ist noch trauriger… Wir wollen ihn beiseite lassen, denn er würde nur die beiden ersten wiederholen. Kurz, im dritten Fall fünf Kinder. Die Gemeinde, der Staat, sorgen für sie. Zählen Sie zusammen, Studer. sieben Kinder im ersten und fünf im zweiten und drei im dritten Fall. Macht fünfzehn Kinder, dazu sechs Erwachsene, für die auch gesorgt werden muß…
    Und Pierre Pieterlen wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er vorsätzlich und mit Vorbedacht sein von seiner Frau lebend zur Welt gebrachtes Kind rechtswidrig getötet hat, indem er ihm unmittelbar nach der Geburt ein Handtuch auf das Gesicht legte, mit der Hand drückte und es mit den Händen würgte, so daß es erstickte…«
    Laduner strich sich mit der flachen Hand über die Haare, preßte die abstehende Strähne gegen den Hinterkopf, aber sie erwies sich als widersetzlich, richtete sich auf und glich wieder dem Kopfschmuck eines Reihers… »Ich weiß, ich weiß, Studer«, sagte er nach einer Welle, »das sind müßige Gedanken, wir werden die Justiz nicht ändern, wir werden die Menschen nicht ändern, aber vielleicht können wir doch die Verhältnisse anders gestalten. Gerade bei den schizoiden Charakteren, und ich habe Pieterlen zu dieser Gruppe gezählt, obwohl ich zugeben muß, daß die Bezeichnung eine Ausflucht ist, eine Denkbequemlichkeit – gerade bei den schizoiden Charakteren besteht die Möglichkeit, daß die Krankheit überhaupt nicht ausbricht… Imponderabilien…«
    Studer lächelte, dachte: ›Das heißt also Unwägbarkeiten…‹
    »… Spielen da eine große Rolle. Und unter Imponderabilien verstehe ich eigentlich das, was man sonst das Schicksal nennt. Wäre es dem Manne gut gegangen, hätte er sein Auskommen gehabt, so wäre es möglich gewesen, daß er zeit seines Lebens unauffällig geblieben wäre. Vielleicht wäre er pedantisch geworden, vielleicht ein Sonderling, der schließlich Marken gesammelt hätte oder Weltanschauungen – man kann das nicht so genau sagen. Auf alle Fälle steht fest, daß er geheiratet hat, oder sagen wir noch vorsichtiger, daß er eine Frau gesucht hat, um der Einsamkeit zu entfliehen. Seine Frau hat ja gesagt, daß er nur bei ihr aus sich herausgegangen sei… Die Einsamkeit, Studer! Die Einsamkeit!…«
    War es verwunderlich, daß Studer an seinen Besuch in der leeren Wohnung im ersten Stock dachte?

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