Mattuschkes Versuchung
kleinen Schmuckstück, am Wald gelegen, mit kleinem Garten und altem Baumbestand. Es hatte eine gemütliche, große Küche, die gleichzeitig Esszimmer war, eine heimelige Wohnstube, zwei Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer mit attraktiver Aussicht. Zwei glückliche Jahre vergingen, sie ergänzten sich in einer Weise, die man als perfekte, inspirierende Harmonie beschreiben könnte. Sie ließ keine Dominanz zu und sicherte jedem gleiche, prosperierende Anteile an ihrer Partnerschafts- und Liebesaktie.
Christina hatte an einem mehrtägigen Psychologenkongress teilgenommen, Vera holte sie frühmorgens freudig am Bahnhof ab, die voraussichtliche Ankunftszeit hatte sie ihr vor der Rückfahrt mitgeteilt. Ungeduldig ging sie hin und her und vergrub ihr Kinn in dem wärmenden Mantelkragen. Der Anschlusszug traf pünktlich ein, Christina stieg nicht aus; Vera wartete vergeblich in der Winterkälte des Bahnsteigs. Verflixt, über Handy bekam sie keinen Kontakt. Nachdem sie auch am Schalter keine Auskunft erhielt, fuhr sie beunruhigt zur Arbeit. Christina konnte den Anschlusszug, der sie nach Hause bringen sollte, nicht erreichen. Sie saß im schwach beleuchteten D-Zug 203 von Amsterdam nach Basel, der am 6. Februar 2000 kurz vor Mitternacht nahe dem Bahnhof Brühl entgleiste. Gemeinsam mit acht weiteren Menschen kam sie bei dem fürchterlichen Zugunglück ums Leben.
Vera verlor jeglichen Boden unter den Füßen, empfand nur noch Leere und Sinnlosigkeit, konnte ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, ihre lebhafte Art war nicht mehr in Ansätzen zu erahnen. Sie ließ sich gehen, vernachlässigte sich, kleinste Anstrengungen fielen unsagbar schwer. Aller Zuspruch prallte an ihr ab, Trauer und Hader hatten einen Wall um sie errichtet, der nicht zu überwinden war. Irgendwann rief man ihr in der Stadt ,besoffene Pennerin nach, das war die Initialzündung, sich wieder zu besinnen. Zu ihrer Arbeitsstelle wollte sie nicht zurück, in der Stadt nicht mehr bleiben, wo jeder Schritt an Christina erinnerte. Sie verkaufte das Haus, beglich ihre Schulden, zog nach München und begann eine Gesangsausbildung. Damit gewann sie eine Möglichkeit, Gefühle, die das schockierende Ereignis eingefroren hatte, wieder zuzulassen und auszudrücken. Sie konnte schauspielern, tanzen und singen. Ihr erstes Engagement erhielt sie als Soubrette- und Musicalinterpretin an einem Provinztheater. In dieser Atmosphäre fühlte sie sich wohl, es war die richtige Entscheidung, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Später kam sie wieder nach München. Ihr Engagement bescherte ihr nur wenige Rollen, so dass sie sich nach einer zusätzlichen Beschäftigung umsah. Zum Begleitservice kam sie eher zufällig. Zunächst erschien ihr alles anrüchig, dann aber erlebte sie, wie interessant die Tätigkeit sein konnte. Wegen ihrer Sprachkenntnisse wurde sie als Messehostess engagiert, begleitete interessante Persönlichkeiten zu Geschäftsessen, Empfängen oder führte sie exklusiv zu Sehenswürdigkeiten der Stadt. Sie hatte sich ausbedungen, keine erotischen Dienstleistungen zu erbringen. Probleme gab es nicht.
Zwar hatte sie sporadische Kontakte zu lesbischen Freundinnen, eine feste Beziehung wollte sie aber nicht eingehen. Zu dieser Zeit kam das Treffen mit Mattuschke zustande.
»Vera Lanek vom Begleitservice Amica« stellte sie sich vor.
Sie saßen an der Bar, sprachen über vielfältige Themen und das derzeitige Engagement am Gärtnerplatztheater. Ihm gefiel ihre intelligente, lebhafte, unaufdringliche Art, sie hatte Stil und das nötige Gespür, sich unterschiedlichen Situationen anzupassen. Außerdem war sie eine gut aussehende, große Frau mit dezentem Geschmack. Noch etwas registrierte er wohlwollend an ihr, dass sie nicht rauchte. Raucherinnen hatten ihn immer abgestoßen. Sie verabredeten sich für den nächsten Abend. Er hatte sie ausreichend gebrieft, so dass sie die Beteiligten kannte und wusste, worauf es ihm ankam. »Ich erwarte Sie morgen um 19.30 Uhr an der Bar, von hier aus fahren wir gemeinsam zum Ort der Entscheidungen«, er lächelte sie an und half ihr in den Mantel. Sie fragte nicht, welche Kleidung sie tragen oder welchen Smalltalk sie führen sollte. Er hatte ihr die Situation geschildert, die sie dort erwartete, sie war selbstsicher genug, sich für das passende Outfit oder angemessene Gesprächsthemen zu entscheiden und verließ das Hotel mit einem unnachahmlichem Gang. Mattuschke sah ihr nach, bis sie durch die Flügeltür
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