Mattuschkes Versuchung
zu viel für sie, dazu kam die Sorge um Paul. Frau Renard war aus dem Koma erwacht, konnte sich aber an nichts erinnern, nur, daran, sehnlichst den Anruf ihres Neffen zu erwarten.
»Du bist schmal geworden Louise, entschuldige, du siehst beschissen aus«, Gila blickte ihr besorgt ins Gesicht, »du hast tagelang nichts gegessen, damit ist jetzt Schluss und wenn ich dich zwangsernähre.« Mattuschke ging schweigend neben ihnen. Louise sah, dass er eine flache Metallflasche aus der Tasche nahm, den Korken mit den Zähnen herauszog und einen kräftigen Schluck nahm. Das hatte sie noch nie bei ihm beobachtet. Augenblicklich wehte ein süßlich scharfer Hauch von Alkohol herüber. Mit zitternder Hand steckte er sie wieder zurück. Blätter raschelten welk ihr flüsterndes Lied. Resolut packte Gila die Freundin am Arm.
»Du brauchst wieder Kräfte und dringend eine Betreuerin, solange du in diesem Zustand bist. Wie gut, dass sie gerade neben dir geht.«
Rudinsky hatte zu ihnen aufgeschlossen und sprach mit Heinz, so dass Gila sie auf einen Nebenweg zerren konnte. »Von hier aus kommen wir schneller zum Auto, jetzt handle ich.«
Auf dem feinen Kies des Friedhofswegs hörten sie Schritte, die sich ihnen schnell näherten und drehten sich um, Amina war ihnen gefolgt. Sie begrüßte die beiden Frauen stumm und gab Louise einen flüchtigen Kuss. Auch sie sah mitgenommen aus, die Augen verweint und von verlaufener Wimperntusche verfärbt. Hastig blickte sie zurück, dann steckte sie Louise einen zusammengefalteten Zettel in die Manteltasche. »Lies ihn bitte, wenn du ungestört bist.« Am nächsten Seitenweg bog sie wieder ab, ohne sich zu verabschieden. Gila fuhr sie nicht nach Hause, sondern in die Försterklause, wo Frank bereits auf sie wartete und Louise mit Sorge betrachtete. Er servierte heiße Hühnersuppe.
»Iss sie, ich habe sie extra geordert, in deiner Situation hilft nichts besser als kräftige Brühe.« Louise nickte matt. Schon beim Geruch glaubte sie Übelkeit zu verspüren, dennoch zwang sie sich dazu, ein paar Löffel zu schlürfen. Wider Erwarten tat ihr die heiße Flüssigkeit gut, Wärme breitete sich angenehm in ihr aus. Schließlich hatte sie den Teller geleert, Frank warf einen kurzen Blick aus der Küche und strahlte, als habe er Geburtstag. Er mochte die beiden Frauen, jede von ihnen hätte er sofort genommen, er war glücklich, wenn er ihnen einen Gefallen erweisen konnte.
In dieser Nacht schlief sie vor Erschöpfung gleich ein und erwachte erst gegen Morgen; es war das erste Mal seit Tagen, dass sie mehr als nur wenige Stunden Schlaf hatte. Sie stand auf, um sich einen Kaffee zu machen, frühstücken wollte sie später mit Heinz, dem armen Kerl ging es ebenso dreckig wie ihr. Sie hatte gerade die Zeitung aufgeschlagen, als es läutete. Das wird Heinz sein, dachte sie und öffnete die Tür. Vor Erstaunen brachte sie kein Wort heraus. Paul stand vor ihr, schmal im Gesicht, aber mit leuchtenden Augen. Er nahm sie stumm in die Arme, bedeckte sie mit Küssen und drückte sie mit einer Kraft an sich, in der die ganze Not, Sehnsucht und Verzweiflung der letzten Tage zum Ausdruck kam. »Wieso?«, fragte sie, weiter kam sie nicht, weil seine Liebkosungen jedes kommende Wort verbaten. Er spürte ihren so lange entbehrten Körper unter seinen Händen, fühlte ihre Brüste, unstillbare Sehnsucht überkam ihn, er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Sein Verlangen wurde zum Echo ihrer eigenen Begierde, schnell entledigten sie sich ihrer Kleidung, schmiegten sich aneinander, so als gäbe es nur einen Körper, eine Seele, ein Denken und Fühlen. Sie schwamm in Sehnsucht, Zärtlichkeit und Erleichterung. Seine leidenschaftlichen Küsse erstickten ihr Stöhnen. »Lass dich gehen, spüre mich«, flüsterte er, den Mund an ihren gepresst. Sie fühlte sich emporgehoben von einer wilden, unbekannt süßen Kraft. Beide erreichten gleichzeitig ihren Höhepunkt, aber sie lösten sich nicht, blieben lange liegen, sprachlos, glücklich, ohne auseinander zu gleiten.
»Man hat mich aus der U-Haft entlassen. Ich zähle nicht mehr als Beschuldigter«, sagte er nach einer ganzen Weile.
»Gottseidank«, stammelte sie. »Die Recherchen haben ergeben, dass Frau Renard an diesem Abend auf ein Ferngespräch mit ihrem Neffen wartete, das für 21.00 Uhr vereinbart war. Um diese Zeit ist dort Mittag oder Nachmittag, was weiß ich. Der Neffe rief pünktlich an und teilte ihr mit, sie im nächsten Monat zu besuchen, worauf sie
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