Mattuschkes Versuchung
drückte und fest umschloss, wie dicker, nachgiebiger Schaumstoff. Sie dachte an einen Schabernack der Kollegen, vielleicht war sie doch nicht alleine im Theater, sie lachte, protestierte, fühlte sich hochgehoben, getragen, immer fester eingeklemmt zwischen diesen weichen Wänden, die sie mit Dunkelheit umgaben und in denen sie versank. Sie schwebte über den Theaterboden, den ihre Füße nicht mehr berührten. Was hatten sie mit ihr vor, die Scherzbolde? In der engen Behausung konnte sie kaum atmen, mit der Atemnot kam Angst auf. Verbissen stemmte sie ihre Arme gegen die weichen Wände, schrie, strampelte, trat mit den Füßen dagegen. Ihre Schreie erstickten, drangen zu den eigenen Ohren zurück. Für Sekunden löste sich der Druck, Gott sei Dank, sie atmete tief, die Seiten waren von ihr gewichen, sie taumelte, stürzte in die Tiefe, es kam ihr wie ein langer Flug vor. Man hörte das hässliche Geräusch des Aufpralls, dann war nur rasend dumpfer Schmerz mit dem alles in Finsternis versank.
Als Louise, erst gegen Morgen eingeschlafen, mit starkem Kopfschmerz erwachte, hörte sie Schläge an der Tür. Zunächst war sie nicht sicher, ob es Relikte ihres Traumes oder wirkliche Klopfzeichen waren. Benommen stand sie auf und blinzelte durch die halb geöffnete Tür. Mattuschke stand im Morgenmantel davor, warf sich in ihren Arm und begann hemmungslos zu schluchzen. Louise, immer noch schwindlig auf den Beinen, hielt ihn unsicher fest, zog ihn auf das gerade verlassene Bett. Nur mühsam brachte er die Worte heraus: »Vera ist tot.«
Fassungslos starrte sie ihn an, sie musste sich verhört haben, heute Abend würde sie sich doch mit ihr treffen. Unendlich langsam versuchte ihr Kopf die Botschaft zu übersetzen. Vera tot, das konnte unmöglich sein. Der plötzliche Schock ließ sie frieren. »Tot?«, wiederholte sie kaum hörbar.
»Sie ist beim privaten Training von der Bühne in die Tiefe gestürzt und war sofort tot, im Halbdunkel hat sie wohl den Bühnenschacht übersehen«, sagte Heinz mit erstickter Stimme. Wieder umarmten sie sich wie Verzweifelte, blankes Entsetzen machte sich in Louise breit und entlud sich in einem langen Aufschrei. Sie warf sich vornüber auf das Bett, ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Körper wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Mattuschke hockte neben ihr, ein Bild des Jammers, und streichelte hilflos über ihren Rücken. Das Unfassbare war Realität, Vera, die wunderbare, temperamentvolle und verletzliche Sängerin, Freundin und langjährige Wegbegleiterin Mattuschkes, lebte nicht mehr. Als Gila von dem Unfall erfuhr, erging es ihr ähnlich, sie brach sofort in Tränen aus, unbegreiflich, dass sie nie mehr ihre Stimme, ihr Lachen hören und in die tiefgründig schwarzen Augen sehen würde. Sie fuhr zu Louise, die apathisch im Bett lag, kochte Tee mit Honig und hielt sie im Arm. Immer wieder zogen die schönen Bilder ihres gemeinsamen Urlaubs, das zärtliche Kuscheln in der Nacht von Dubrovnik, von dem Mattuschke nichts erfahren sollte, die heiteren Stunden von Bayreuth, ihre temperamentvollen Theaterrollen und der tiefgründige Blick an ihren Augen vorbei. Sie konnte es nicht begreifen.
Es war ein außergewöhnlich heller, kristallklarer Tag, der so gar nicht zu diesem traurigen Anlass passte. Hart, unbarmherzig polternd, fiel die rotbraune Erde von den Schaufeln zwischen unzählige Blumen auf den sandfarbenen Holzsarg. Die bewegende Bestattungsfeier, von den Kollegen des Ensembles gestaltet, erlebte Louise wie in Trance an der Seite von Gila und Mattuschke, der restlos gebrochen wirkte. Sie sah Veras Eltern in ihrem Schmerz, die sie noch vor wenigen Wochen so herzlich empfangen hatten und ihr Herz verkrampfte sich noch stärker. Was wollte sie ihr nur Dringendes mitteilen, was war das Geheimnisvolle, das ihre Stimme so ängstlich klingen ließ? Sollte es einen Zusammenhang mit ihrem Tod geben? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Die Gerichtsmedizinische Untersuchung ging von einem Unfall aus ohne Fremdverschulden. Keine Einwirkung von Gewalt waren an der Verunglückten festzustellen, keine Druckstellen, Kratzer oder blaue Flecken, die auf einen Überfall oder Kampf hätten hindeuten können. In traumtänzerischer, somnambuler Bewegung sei sie wohl im Halbdunkel der Bühne in die Tiefe gestürzt. Nur, wer hatte vergessen, den Bühnenschacht zu schließen? Hier liefen die Ermittlungen weiter. Louise fühlte sich miserabel, was sie in kurzer Zeit an Schrecken zu verkraften hatte, war
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