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Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
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Ohnehin hätte sie es nicht mehr getan, nachdem ihr Bruder bei einer waghalsigen Nummer, ohne Netz im Freien über einem Marktplatz, tödlich abstürzte. Ihren Mann lernte sie im Zirkus kennen, damals war er noch Mitglied einer Cowboy-Gruppe, die wie der Teufel ritt und Kunststücke mit dem Lasso vollführte. Am Ende einer dieser Nummern, die sie heimlich im Artisteneingang beobachtete, warf er spontan das Lasso um ihre Hüften, zog sie zu sich heran und verpasste der sich heftig Wehrenden einen leidenschaftlichen Kuss, was das Publikum als Höhepunkt der Nummer ansah und zu Beifall hinriss. Sie schämte sich, war verärgert, wollte ihn nie mehr sehen und war ein Jahr später verheiratet. Vater konnte mit Fug und Recht behaupten, sich seine Frau eingefangen zu haben. Er spezialisierte sich auf Messerwurf und Zauberei, nachdem er sich zwischendurch erfolglos als Clown versucht hatte. Das war nicht sein Metier. Sie lebten im Wohnwagen und zogen mit der Zirkustruppe von Ort zu Ort. Veroni war es von Kind an so gewohnt. Fünf Jahre später wurde sie schwanger. Vater hoffte auf einen Jungen, sie wünschte sich eine Tochter. Die Schwangerschaft verlief problemlos, fast bis zu den letzten beiden Monaten konnte sie ihm noch als Assistentin helfen.
    Dann kam die Geburt überraschend und zu früh. Schnell rief man Amarena, eine alte Artistin mit heilenden Händen, die bei den täglich anfallenden Blessuren als Krankenschwester fungierte und in ihrem bewegten Zirkusleben manche Entbindung und komplizierte Tiergeburt erfolgreich vorgenommen hatte. Nicht immer war ein Arzt erreichbar oder ein Krankenhaus in der Nähe. Außerdem stellten sich nach ihrer Erfahrung bei Artistinnen und ihren durchtrainierten Körpern viel seltener Geburtskomplikationen heraus. Auch diesmal verlief im notdürftig vorbereiteten Wohnwagen alles nach Plan, der kleine Junge war ungewöhnlich schnell auf der Welt und entließ sein zorniges Geschrei hinaus auf den Zirkusplatz. Eifrige Helferinnen kümmerten sich um ihn, der, klein und untergewichtig, den Namen Heinz erhalten sollte, den des abgestürzten Onkels. Beunruhigt starrte Amarena auf die Blutung, die trotz aller Versuche nicht zum Stillstand kommen wollte und Veroni mehr und mehr schwächte. Ihre medizinische Kunst und Erfahrung versagte, hilflos und verzweifelt musste sie mit ansehen, wie die junge Kollegin in ihren Armen verblutete. Bei der Geburt war ein Gefäß verletzt worden, der Uterus zog sich nicht mehr zusammen, eine Komplikation durch Atonie, die allenfalls mit einem sofortigen operativen Eingriff hätte behoben werden können. Als schließlich ein Arzt eintraf, konnte er nur noch ihren Tod feststellen.
    Der Säugling kam ins nächste Krankenhaus, dann übergab man ihn einem Kinderheim, in dem er, von wenig Liebe begleitet, langsam heranwuchs. Nach dem alten Bühnenspruch, the show must go on , reiste sein Vater tief erschüttert mit der Truppe weiter, während Lavinia, eine andere Artistin, die Aufgaben der Assistentin übernahm. Als sein Vater sie, mit der er einen atemberaubenden Zaubertrick vorführte, bei dem sich die extrem Bewegliche in ein Kistchen von der Tiefe zweier Schubladen zwängen musste, drei Jahre später heiratete befreite man den Jungen aus dem Kinderheim und nahm ihn mit auf die Zirkustournee. Der Kleine blühte auf in dieser menschlich-tierischen Großfamilie, von allen gehätschelt, spielte mit Ponys, Löwen- und Affenbabys, kroch zwischen den Beinen der Elefanten durch, die kaum, dass sie ihn wahrnahmen, ihre klobigen Füße sanft hoben wie Balletttänzer. Es war eine Zauberwelt der Farben, Gerüche und Sensationen, die er mit großen Kinderaugen sah und in allen Facetten erlebte. Wie durch ein Wunder überstand er sogar das unglückliche Entwischen in den Tigerkäfig in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit unbeschadet. Furchtlos ging er auf die vom ungewöhnlichen Besuch überraschte Raubkatze zu und zog sich erst zurück, als ihr kräftiges Fauchen ihm fast die Haare vom Kopf blies. Angst war in diesen Kindheitsjahren ein Fremdwort für ihn, der Umgang mit unterschiedlichsten Menschen und Tieren in seinem reisenden Kosmos tagtägliche Übung. Verschiedenste Charaktere und Temperamente lernte er dabei kennen, einzuschätzen und sich auf sie einzustellen. Er studierte ihre Verhaltensweisen und entwickelte ein subtiles Talent, Reaktionen zu erahnen, bevor sie eintraten. Das verschaffte ihm in allen Situationen unschätzbare Vorteile, die er geschickt zum Taktieren

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