Mattuschkes Versuchung
eigenen Wagen, rechtzeitigem Aufbau, der Futterbeschaffung und vielem mehr. Das waren Zukolowskis ungeliebte Tätigkeiten, die er am liebsten anderen überließ, wo immer Delegation möglich war. Er wusste gutes Essen und edle Weine sehr zu schätzen, die Anwandlungen großer Herzlichkeit in ihm auszulösen vermochten, und seine Frau, eine begnadete Köchin, handelte streng nach der Maxime, lass Liebe erst durch den Magen geht. Wein und Essen hatte etwas ungemein tröstliches für ihn, den kräftigen Mann mit dem fleischigen Nacken und den stets geröteten Wangen.
An den Bahnhöfen oder während der langen Fahrten von einem zum anderen Spielort begegnete man oft den Konkurrenten mit ihren bunten Wagenkolonnen und sprach über neue Attraktionen, Erfolge oder Missgeschicke. Zirkus Krone, Knie, Althaus, Sarrasani, Busch, Barum oder Bügler waren große Namen dieser Zeit, die sich Heinz einprägten. Einige ihrer Zelte und Programme hatte er selbst gesehen oder aus Berichten in lebhafter Erinnerung.
Zu denen, die er besonders mochte, zählte auch Heidrun, die angeblich dickste Frau der Welt, die sich hier die Dicke Berta nennen ließ und ihre Fleischmassen in der Pause neben dem Zelt der ebenfalls präsentierten Liliputaner in ihren Puppenwohnungen, direkt beim Eingang zur Tierschau, zum makabren Erstaunen der Besucher zeigen musste. Es machte ihr nichts aus, sich von herablassend oder schadenfroh blickenden Zuschauern und Zuckerwatte schleckenden Kindern mit Erstaunen oder Abscheu betrachten zu lassen. Von Kind an war sie es gewohnt, wegen ihrer Unförmigkeit angegafft, gehänselt und verstoßen zu werden. Hier hatte sie eine Heimat gefunden, eine Familie, in der man sie so nahm wie sie war, eine etwas andere Art von Artistenattraktion, eine gewichtige Programmnummer, die wie alle anderen zum Gesamtensemble der Truppe gehörte und dem Zirkus sein individuelles Konterfei gaben. So verstand sie ihre Aufgabe auch selbst und erledigte sie mit der gleichen Professionalität wie alle anderen Künstler. Sie war eine Seele von Mensch, die über ein unerschöpfliches Reservoir an Süßigkeiten verfügte, mit denen sie nicht nur ihren üppigen Leib in Form hielt, sondern auch Kinder und nervöse Artisten liebevoll versorgte. Sobald Heinz einen kleinen Kummer hatte, war Heidrun die erste Ansprechpartnerin. Sie hatte immer Zeit für ihn und war um einen guten Rat nie verlegen. Für ihren Wohnwagen hatte man eigens ein riesiges Bett anfertigen lassen, in dem es ihr erstmals möglich war, sich im Schlaf auf die andere Seite zu drehen. Heinz kam es wie eine Matratzenlandschaft unendlicher Weite vor. Über eine Rampe am Wohnwagen konnte man sie mit einem kunstvoll konstruierten Gefährt direkt ins Zelt rollen, ohne dass sie einen Schritt gehen musste, was ihr bei dem gigantischen Gewicht verständlicherweise sehr schwer gefallen wäre.
Schließlich Fiete Terbrook, sonnengegerbter, mit tausend Runzeln übersäter Elefantendompteur von der Nordsee, aus dem Badeort Bensersiel, der mit seinen Elefanten im gleichen Zelt schlief und mit kaum jemandem, außer ihm, ein Wort sprach. Bei jedem Transport erlebte man das säbelbeinige Männchen hochgradig nervös vor lauter Sorge, dass die Verladearbeiter seinen Elefanten mit der Eisenstange an die Beine schlagen oder den Ankus, den Elefantenhaken, falsch einsetzen würden, um sie anzutreiben. Mit einem spitzen Ankus konnte man sie leicht verletzen. Fiete benutzte ihn fast nur, um ihnen bei der Dressur die Richtung oder den Platz anzuzeigen. Er musste im Krieg Schreckliches erlebt haben. Nachts suchten ihn Albträume heim, in denen er laut schrie und schweißnass erwachte. Nach solchen Nächten legten ihm die Elefanten morgens wie zum Trost den Rüssel auf die Schulter, in einer Geste stummer Umarmung und Schutzgarantie. Er sprach nie darüber, nur einen Satz wiederholte er häufig. »Es war leicht, uns in den Krieg zu schicken, schwer, uns nach Hause zu entlassen, aber am schwersten, den Krieg wieder aus unseren Köpfen zu holen.«
Die schwerfälligen Dickhäuter verstanden und liebten ihn, wedelten freudig mit den Ohren, wenn sie ihn sahen und zeigten ihm gegenüber eine eigene Art von Zärtlichkeit und Liebkosung, die nur Eingeweihte sehen und verstehen konnten. Nach einer Weile hörten sie auch auf die Kommandos, die Heinz ihnen gab. »Go side«, wenn er wollte, dass sie zur Seite gingen, »down«, wenn sie sich legen sollten, »dadada«, zum Rückwärtsausrichten oder »hatri«, wenn sie
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