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Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
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nutzte. Schon im Alter von fünf Jahren gelang es dem gewitzten Kerlchen, dessen Hosentaschen meist ein Tier beherbergten, Blindschleiche, Eidechse, Frosch oder Käfer, jeden um den Finger zu wickeln. Gab es in späteren Jahren Differenzen, die weder Direktor, Familienmitglieder noch Freunde beizulegen vermochten, rief man ihn als Vermittler, und er hatte, so unglaublich es klingen mag, fast immer Erfolg.
    Stundenlang konnte er vor den Käfigen auf dem Bauch liegen, den Raubtieren in die Augen schauend, achtete auf den Klang ihrer Stimmen, jedes Zucken der Muskeln, Barthaare und Verengen der Augenschlitze. Er lernte ihre lautlose Sprache und kommunizierte mit ihnen, wie es kein anderer vermochte. Hieraus erwuchs schon in Kinderjahren eine Überlegenheit andern gegenüber, die er sich nie anmerken, ihn aber Sicherheit und Kraft ausstrahlen ließ, die sie unbewusst verunsicherte. Überraschungsmomente blieben aus, er besaß die Kontrolle über das Geschehen, traten sie dennoch ein, waren sie kalkuliert oder Notfallpläne vorbereitet. Die Pfleger lächelten milde, wenn er ihren Tieren nahende Krankheiten prophezeite, von denen keinerlei Anzeichen sichtbar waren, Tage später aber tatsächlich eintraten. Später nutzten sie seine Gabe und stellten sich widerspruchslos auf die Voraussagen ein.
    Alle kannte er mit ihren Marotten, Fehlern und liebenswerten Eigenschaften. Morello, den Clown, der das Publikum zu Lachstürmen bewegen konnte, aber selbst ein nachdenklicher und zur Schwermut neigender Künstler war, besonders nachdem Liliane, das Mädchen, das den Weißclown spielte, zu einem anderen Zirkus wechselte. Wenn man ihn in ziviler Kleidung und ohne Schminke sah, hätte man in ihm nie einen Clown vermutet. Er war der Typ des Grandseigneurs, lebensweise, charismatisch und von schwerflüssigem Geblüt, mit dem man wunderbar tiefsinnige Gespräche führen konnte. Ein grüblerisch, bescheidener Mensch, der sich trotz seines tiefen Wissens und edler Eigenschaften für belanglos hielt, eine Selbsteinschätzung, die er mit vielen großen, herausragenden Persönlichkeiten teilte.
    Boris Plonsky, den Feuerschlucker, einen verschlossenen, grimmigen Mann mit dem Aussehen eines zweiäugigen Zyklopen und Zähnen wie Zinnenkränze einer Burgruine.
    Max, den sorglosen Seelöwendresseur, der seine Barttracht exakt auf die seiner Schützlinge abstimmte. Hier hielt er sich nur ungern auf, weil er den Fischgeruch nicht ertragen konnte.
    Ricardo, den Löwendompteur, den er besonders schätzte, weil er ähnliche, allerdings weniger ausgeprägte Eigenschaften besaß, um die Reaktionen seiner Schützlinge voraus zu ahnen. Löwen und ihre Dressur wurden zur geheimen Leidenschaft des jungen Mattuschke. Er kannte jeden von ihnen, die sich durch das Gitter von ihm streicheln ließen, Selim, Pascha und Sultan, den Chef der Truppe, Mira, Simba, Bebeto, Leo und Sambesi. Viele Stunden verbrachte er zusammen mit Ricardo und ließ sich die Abenteuer seines aufregenden Lebens erzählen, obwohl er noch jung an Jahren war. Er sah in ihm seinen potentiellen Nachfolger, dem er Gespür und Coolness für den gefährlichen Job zutraute. Vor allem wusste Heinz mit der Präzision eines Uhrwerks vorauszusagen, an welchen Tagen es möglich war, Sambesi, dem ruhigsten Löwen, den Kopf in den Rachen zu stecken und wann es nicht angeraten war. Ricardo verließ sich blind auf die Prognosen des Kindes, die sich nicht immer mit den eigenen deckten, aber unfehlbar waren.
    »Weißt du, Heinz, am wichtigsten ist es, das Vertrauen der Tiere zu gewinnen. Mit Bestrafung erhältst du es nicht, allenfalls Respekt. Nur wenn sie dir absolut vertrauen, sind sie bereit, Kunststücke zu vollführen, die sie in freier Wildbahn nicht tun würden. Denk mal, wie viel Vertrauen ein Löwe zu mir haben muss, wenn ich ihn durch einen Feuerreifen springen lasse. Würdest du ohne weiteres springen?«
    Es kroch ihm unangenehm über den Rücken, »Jedenfalls sehr ungern.«
    »Das Vertrauen gilt auch umgekehrt, würde ich sonst meinen Kopf, den ich noch ein Weilchen behalten möchte, in Sambesis Maul stecken? Jeden Tag begrüße ich meine Löwen einzeln und unterhalte mich mit ihnen. Das verstehen sie zwar nicht, können aber meiner Stimme anmerken, ob ich sie lobe, schmeichle oder tadele. An die Peitsche sind sie gewöhnt, davor haben sie keine Angst, wenn ich sie nicht missbrauche, sie ist sozusagen meine verlängerte Hand. Der Knall heißt für sie: ,Aufgepasst oder Konzentration. Machen sie

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