Mattuschkes Versuchung
ihre Sache gut, werden sie gelobt und bekommen etwas aus der Futtertasche.«
Mit Begeisterung war er bei der Dressur dabei, wenn seine Eltern es nicht merkten, sogar im Zentralkäfig beim Training und durfte den Wüstenkönigen selbst die Belohnungshappen an der Spitze des Tupfers, der kleinen Peitsche, reichen. »Die Dressur ist keine Qual für die Tiere, sondern Spiel- und Bewegungstherapie«, hatte er Ricardos Worte im Ohr. Er kannte alle Befehle, die die Löwen beherrschten, etwa zwanzig mochten es gewesen sein.
Da war Medusa, die Kartenlegerin des Schicksals, die die Zukunft in der Glaskugel sah, an der Kasse Karten und während der Vorstellung Popcorn, Süßigkeiten und Programme aus dem Bauchladen verkaufte. Von ihr lernte er, mit geschickten Worten das zu sagen, was man am liebsten hören wollte, wonach man sich am meisten sehnte, wessen man bedurfte, sei es, um hoffen zu können, eine Bestätigung zu erhalten oder endgültige Entscheidungen treffen zu können. Familie Wackernagel, Trapezflieger und Seilakrobaten, die eine einzigartige Harmonie verband, und in deren Gesellschaft er sich besonders wohl fühlte. Täglich trainierten sie wie besessen Muskeln, Beweglichkeit und Reaktionsschnelligkeit. Ein falscher Griff, eine Sekunde zu spät agiert, konnte den Tod in der meterhohen Kuppel bedeuten. Wackernagels arbeiteten, bis aufs Training, ohne Netz und boten unter den Nerven zerreisenden Trommelwirbeln des Orchesters den dreifachen Salto Mortale, eine Nummer, über die kaum ein anderer Zirkuskonkurrent zu dieser Zeit verfügte. Nicht nur ihre Königsdisziplin, nein auch sie als Menschen genossen Achtung und in der Zirkushierarchie einen der obersten Ränge. Mit der Jüngsten, Britta, die bereits als Seiltänzerin ausgebildet wurde, verband ihn eine intensive Kinderliebe, der er seine erste Kusserfahrung als Fünfjähriger verdankte.
Mit der eleganten Sina und ihrem Mann Harry, die eine Dressur mit edlen Lipizzanern vorführten und mit seinen Eltern befreundet waren, verstand er sich auf einer höheren Ebene der Eleganz und Ästhetik. Sina verkörperte für ihn das Ideal weiblicher Anmut, Schönheit und Erotik, obwohl er damals noch nicht wusste, was das war. Wenn sie in ihrem glitzernd silbernen, eng anliegenden Kostüm mit Zylinder, Peitsche und einem unnachahmlichen Gang in die Manege schwebte, war er jedes Mal voller Bewunderung, spürte eine Aufregung in sich, die er nicht deuten konnte, und die ihm regelrecht den Atem nahm. Unendlich oft sah er sie in seinen Träumen in das weite Oval der Manege schweben wie in einer Zeitlupenstudie, den schwarzen Hut winkend in der Hand, die langen blonden Haare wie vom Wind zurückgestrichen hinter ihr wehend, ein schmalhüftiges Sinnbild der Anmut und Bewegungseleganz.
Direktor Max Zukolowski, im Grunde seines Herzens ein liebenswürdiger, mondgesichtiger, durch und durch sanguinischer Mensch, mit Sinn für Gerechtigkeit und Hang zur Bequemlichkeit, musste den vielen Mitarbeitern gegenüber stets einen Schein von Strenge und unerbittlicher Härte wahren, was ganz und gar nicht seinem Naturell entsprach und ihn in eine Rolle presste, die er jeden Tag nur mit Überwindung spielte. Er hatte das alte Zirkusunternehmen von seinem Vater übernommen, obwohl er andere Ambitionen hegte, sich aber der Familientradition fügen müssen. Am glücklichsten war er, wenn er in seiner, an den Seiten deutlich einengenden, Paradeuniform im gleißenden Scheinwerferlicht in die Manege treten und dem Publikum die Sensationen in einer Art und Weise ankündigen konnte, dass jeder vor Erwartung schier zu zerspringen glaubte. In dieser Rolle erlebte man ihn am überzeugendsten, in ihr war er ein Magier der Worte und Dramaturgie. In solchen Momenten ging er auf in seinem Beruf und der Mission, den Menschen mit einem Spektaculum Freude zu schenken, wie es schon die Römer mit ,panem et circensis taten. Auch bei der Auswahl einzelner Nummern und der Zusammenstellung des Programms bewies er ein gutes Händchen und Gespür für spannungsreiche Harmonie.
Die Zeiten waren nicht einfach, viele Reisezirkusse waren in diesen sechziger Jahren unterwegs, so dass Routen und Orte sorgfältig ausgewählt werden müssten, wobei sich die Zuschauer nicht vorstellen konnten, welch logistischen Aufwand jedes Gastspiel erforderte. Angefangen bei der frühen Reservierung geeigneter Plätze mit Wasser- und Energieanschlüssen, dem Drucken der Plakate, dem Transport der Tiere und des Geräts mit Bahn oder
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