Mattuschkes Versuchung
ist das Publikum bereit zu zahlen, der Direktor willens, uns einzustellen. Zu unserem Wir gehört das Unwägbare, das Verdrängen der Angst, das Spiel mit der Gesundheit untrennbar dazu, ebenso bei Wackernagels, den Raubkatzendompteuren, Feuerschluckern, Rennfahrern und anderen. Ihre Geschicklichkeit oder Perfektion alleine reicht nicht, es ist schön anzusehen. Das Spiel mit dem Risiko oder dem Tod ist es, was die Leute daran fasziniert.«
Er sprach mit Heidrun darüber.
»Ich kann deine Befürchtungen verstehen, Heinz, aber so ist es einmal bei den Artisten. Das Vertrauen in ihre Fähigkeit und Konzentration macht sie sicher, bis an die Grenze des Risikos, auf dem schmalen Grat gehen zu können. Sie brauchen die atemlose Spannung, die vom Publikum ausgeht, sie sind süchtig danach. Solange sie sich nicht überschätzen, ist das in Ordnung. Problematisch wird es immer dann, wenn sie nicht spüren, wann das Risiko zum Unkalkulierbaren wird oder Überheblichkeit einsetzt. Ein großer Artist ist immer selbstbewusst, aber ebenso demütig.«
Er lauschte ihren Worten. »Pudel-, Elefanten-, oder Pferdedressuren sind aber weniger gefährlich und trotzdem locken sie die Leute an.«
»Da reizt weniger das Risiko, sondern das Außergewöhnliche, das man sonst nie sehen kann, wie bei den Elefanten, überraschende Kunststücke, die man Hunden und Pferden beibringt und auch deren unnachahmliche Eleganz.«
»Wie findest du Sina, Harry und ihre Dressurnummer?«, lenkte er das Gespräch in diese Richtung.
»Da kommt vieles zusammen, die Eleganz dieser Geschöpfe, ihre außerordentliche Gelehrigkeit, die Kunst derjenigen, die sie dressieren und deren Grazie. Das Gesamtbild der ästhetischen Bewegungen und die vertrauensvolle Hingabe des Tiers dem Menschen gegenüber ist es, was den Zuschauer bewegt und fesselt. Dass ein Mensch es fertig bringt, natürliche Meidereaktionen eines Pferdes auszuschalten, und es im Vertrauen darauf, dass er ihm nichts Böses abverlangt, ungewöhnliche Dinge tut. Das geht nur über eine ganz enge Verbindung von Mensch und Tier und über das Prinzip der Belohnung, nicht der Bestrafung. Hast du gesehen, wie behutsam Sina die Peitsche einsetzt? Sie ist eine zierliche Königin in der Manege, außergewöhnlich schön und ein Goldstück von Mensch. Sie hat eine reine Seele.«
Er musste aufpassen, sich nicht durch allzu große Begeisterung zu verraten. Heidrun wirkte plötzlich wie in weiter Ferne und flüsterte: »Sie ist fast unwirklich schön, wenn sie in die Manege schreitet, man möchte den Atem anhalten, ihr Gang, ihre Ausstrahlung und das wundervoll fließende blonde Haar … Haare, wie getrocknetes Wasser’. «
Sie blickte versonnen in den Raum und dachte wohl, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie wie diese junge Frau mit ebensolcher Schönheit auf die Welt gekommen wäre und nicht als zur Schau gestelltes menschliches Monstrum. Beide schwiegen eine Weile, in der jeder seinen Gedanken nachhing. Er sah Sina vor sich, hatte, trockenes Wasser weder gesehen, noch die Beschreibung je gehört und war tief beeindruckt. Was Heidrun alles wusste, dabei war nur ihr Körper so ungeheuer dick, ihr Kopf eher normal und damit wohl auch der Umfang ihres Hirns. Er wollte sie nicht nach der Bedeutung fragen, um nicht dumm zu erscheinen, nahm sich aber vor, diesen Begriff zu behalten, er passte in seiner mystischen Unerklärbarkeit zu der geheimnisvollen Ausstrahlung dieser überirdisch schönen Frau mit der reinen Seele, für die er sein Leben geben würde. Heidrun dagegen war eine jolie laide für ihn, den Ausdruck hatte er von Morello gehört. Eine schöne Hässliche, eine Frau, so liebenswert und sympathisch, dass sie allein dadurch hübsch wird und ihren unförmigen Körper vergessen macht.
Ganz in Gedanken schlich er zurück. Sie hatten an einem neuen Spielort Quartier gemacht, die Vorstellungen würden morgen beginnen, die meisten waren mit den Vorbereitungen beschäftigt, bis eben hörte man noch Hammerschläge, das Knarren von Transportwagen und die heiseren Schreie der Arbeiter beim Entladen des Materials und der Tiere. Der Kartenvorverkauf war phantastisch gelaufen und hatte alle in gute Stimmung versetzt. Er schlenderte an Sinas Wohnwagen vorbei, unwillkürlich spürte er, wie sich sein Herzschlag steigerte. Im hinteren Teil brannte Licht, die Gardine stand einen Spalt offen. Er schlich sich im Dunkeln heran und stieg auf die schmale Seitenleiste, um einen Blick hinein zu werfen. Sina war allein,
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